Starkes Konzept ohne Weitsicht
Von Joana MüllerEs ist heutzutage immer noch eine echte Seltenheit, wenn der Abspann eines Films rollt und der Großteil der auftauchenden Namen als weiblich zu lesen sind. So ist es jedoch bei „Der Zopf“ von Laetitia Colombani („Wahnsinnig verliebt“), die das Drama auf Grundlage ihres eigenen gleichnamigen Romans inszenierte – und zwar mit einem so überwiegend weiblichen Produktionsstab wie auch weibliche Figuren vor der Kamera im Fokus stehen. Denn hier geht es um drei Geschichten, drei Frauen, die in unterschiedlichen Kulturen und Klassensystemen auf verschiedene Weise um ihre Daseinsberechtigung und ihr Überleben kämpfen. Und der Grundgedanke dahinter ist wirklich toll – denn wenn es eine Sache in der Filmlandschaft braucht, dann sind es mehr Filme von Frauen über Frauen. Umso enttäuschender ist es jedoch, wenn gerade dann die Weitsicht fehlt.
Die „Unberührbare“ Smita (Mia Maelza), die aufgrund ihres Berufs als Reinigungskraft von der indischen Gesellschaft als „Unrein“ angesehen wird, verlässt ihre Heimat, um ihrer Tochter eine Schulbildung ermöglichen zu können. So kämpfen sich die beiden mittellos durch die lärmenden Städte, überfüllten Bahnsteige und verlassenen Felder des Landes. Währenddessen bangt die junge Giulia (Fotinì Peluso) auf Sizilien um das Leben ihres Vaters, der nach einem Unfall im Koma liegt, sowie die damit verbundene Zukunft des Familienateliers. Schließlich muss sie eine unmögliche Entscheidung treffen. In Kanada wird die erfolgreiche Anwältin und alleinerziehende Mutter Sarah (Kim Raver) zur selben Zeit aus dem Leben gerissen, als sie eine alles verändernde Diagnose erhält. Am Ende kreuzen sich die Wege der drei Frauen auf ungewöhnliche Weise, obwohl sie sich niemals persönlich begegnen – stattdessen verweben sich ihre Schicksale so sehr miteinander wie die Haarsträhnen eines Zopfes...
Smita, Guilia und Sarah sind stille Heldinnen des Alltags. Sie sind Mütter, Töchter, Ehefrauen, Tanten, Enkelinnen, Schwestern, Freundinnen, Kolleginnen, die leise durchs Leben navigieren und das Beste für ihre Familien wollen, von denen erwartet wird zurückzustecken, die selten gefragt werden, wie es ihnen geht, was sie eigentlich wollen und die ihre Gefühlswelt häufig mit sich selbst ausmachen müssen. Diese Frauen verdienen unsere Aufmerksamkeit, sie verdienen Geschichten, die auch im Kino erzählt werden. Jede von ihnen ist für sich einzigartig, bewundernswert und wundervoll. Jede von ihnen trägt unser Mitgefühl, wenn tragische Schicksalsschläge auf sie hereinbrechen. Kurzum: Jede ihrer Geschichten ist es wert, erzählt zu werden. Doch diese Geschichten nebeneinanderzustellen, ist fatal. Denn diese drei Frauen sind nicht gleich.
Wenn sich Smita mit ihrer Tochter durchs unbarmherzige Ödland kämpft, um ihr körperliche Gewalt zu ersparen und ihr Grundzüge von Bildung zu ermöglichen, in einem Land, das – wie ihr an einer Stelle im Film mitgeteilt wird – eine unverheiratete Frau so sehr verachtet, dass es besser wäre als Kuh geboren zu werden, dann ist das doch nur schwer damit vergleichbar, dass Sarah als reiche weiße Anwältin in Kanada darum bangen muss, nicht zur Geschäftspartnerin ihrer Kanzlei ernannt zu werden, während sie eine Krebsdiagnose erhält. Natürlich ist eine Krebsdiagnose schrecklich und wie bereits erwähnt, verdient Sarah dafür unser tiefstes Mitgefühl. Und natürlich stehen kulturell, religiös oder klassizistisch bedingt unterschiedliche Probleme auf der Tagesordnung unterschiedlicher Menschen. Das zeigen zu wollen, ist eigentlich auch ein realitätsnaher und nobler Gedanke, denn mit diesem ungerechten Wissen müssen wir uns gerade in der westlichen Welt tagtäglich auf bewusste oder unbewusste Weise auseinandersetzen – und tun es bei weitem zu wenig. Dann muss der Film diese Privilegien allerdings auf irgendeine Art und Weise kommentieren und einordnen, was von Laetitia Colombani leider in Gänze verfehlt wird.
Stattdessen stehen die melodramatischen Bilder nebeneinander und werden mit Klavieruntermalung zu gleichen Teilen dermaßen (über-)emotionalisiert, dass man gar nicht anders kann, als vom Geschehen auch gleichermaßen ergriffen zu sein. Dabei hätte es diese drastischen Stilmittel an sich überhaupt nicht gebraucht, denn das eigentliche Geschehen um die drei Frauen ist - so alltäglich es in ihren jeweiligen Lebensrealitäten oft auch daherkommt - vollkommen ausreichend, um Spannung aufzubauen: Wenn Guilia sich den Vorstellungen ihrer Mutter entgegensetzt, wenn Sarah ihre unter sozialen Ängsten leidende Tochter von der Schule abholt oder Smita ihrer Beschäftigung als „Unberührbare“ nachgeht. Auch das starke Schauspiel der drei Hauptdarstellerinnen Mia Maelza, Fotinì Peluso („Für die Kämpfer, für die Verrückten”) und Kim Raver („Grey’s Anatomy”) schafft es, uns unabhängig voneinander für sich einzunehmen.
Offenbar wollen uns die überbordenden Stilmittel eher darüber hinwegtäuschen, dass diese drei Frauen nicht ebenbürtig als autonom handelnde Kämpferinnen nebeneinanderstehen. Und wenn das verbindende Element dieser drei Lebensgeschichten schließlich im Film Einzug findet, ist es auch leicht, sich selbst für einen Moment dabei zu ertappen, dieses als so wunderliche schicksalhafte Fügung zu betrachten, wie es vom Film gewollt ist. Schafft man es jedoch, durch den seifenoperartigen Nebel zu blicken und das Ganze einmal klar zu sehen, stehen auf der einen Seite nicht weniger als Exploitation, Armut und ein nahender Hungertod und auf der anderen Seite Wohlstand und Profit auf Grundlage der Armut anderer. Und das haben diese drei Figuren wirklich nicht verdient.
Fazit: So gut gemeint der Grundgedanke von „Der Zopf“ auch ist und die unbedingt erzählenswerten stillen Taten und Schicksale dieser Alltagsheldinnen zu berühren wissen, blickt der Film jedoch aus einer rein westlichen Sicht auf das Problem und will uns mit beinahe schon manipulativen Stilmitteln letztendlich Kapitalismus und Ausbeutung als wundervoll-verbindendes Element verkaufen. Schade.