Schmetterlinge am Kottbusser Tor
Von Jan Felix WuttigPartydrogen und Alkoholexzesse, derber Straßenrap neben wummernden Techno-Bässen, hedonistische Pride Parades und das dreckige Sündenbabel des Kottbusser Tors – trotzige Freiheit im multikulturellen Miteinander, wo sich früher preußische Strenge wie ein Korsett um den Alltag einer Gesellschaft schloss. Leonie Krippendorf erzählt in „Kokon“ die Geschichte eines jungen Berliner Mädchens, das seinen Platz inmitten all dieser Metropolen-Schlagworte sucht – und sich dabei dem Titel entsprechend von der Raupe zum Schmetterling wandelt.
Das gelingt vor allem dann ganz hervorragend, wenn sich die Regisseurin in ihrem zweiten Spielfilm nach „Looping“ ganz auf die Glanzleistungen ihrer Hauptdarstellerinnen stützt und ohne allzu viel kulturellen Erklärungsdrang eine vielschichtige Milieuzeichnung zwischen rotzfrecher Straßenmentalität und den schmerzhaften Unsicherheiten der Pubertät anfertigt. Mitunter werden solche wundervollen Momente aber von einem schwerfälligen Zeigegestus und einem überraschungsarmen Plot eingetrübt.
2018 war eh ein viel zu heißer Sommer - und dann auch noch mitten in der Metropole.
„Wir sind wie Fische im Aquarium, wir schwimmen immer im Kreis. Zur einen Seite des Kottis und wieder zurück: So lange, bis wir irgendwann aus dem Becken springen.“
So beschreibt Nora (Lena Urzendowsky) sich und ihre Freundinnen im brütend heißen Sommer 2018. Die Teenagerin wohnt mit ihrer älteren Schwester Jule (Lena Klenke) in der Nähe des Kottbusser Tors im Herzen Kreuzbergs. Während Jule voll im von massig Machismo bestimmten multikulturellen Freundeskreis ihrer Schule aufgeht, merkt Nora, dass sie anders tickt: Sie fühlt sich zu anderen Mädchen hingezogen.
Hilfe von anderen, um sich in diesem verwirrenden Gefühlswelten zurechtzufinden, gibt es auf den ersten Blick keine: Jule interessiert sich mehr für blonde Schönlinge mit Waschbrettbauch, Mutter Vivienne (Anja Schneider) widmet sich in Absturzkneipen dem Alkohol - und der schroffe Ton in der Schul-Clique ist für die schüchterne Nora eher abschreckend. Dann lernt sie die ältere Romy (Jella Haase) kennen, die genau zu wissen scheint, was sie durchmacht und ihr neue Welten abseits des Kreuzberger Smogs und der Friss-oder-stirb-Mentalität der Schule zeigt. Ebenso neugierig wie hilflos ist Nora schon bald bis über beide Ohren verliebt...
Wie schon in ihrem Regie-Erstling beschäftigt sich Leonie Krippendorf auch in „Kokon“ mit dem Thema Einsamkeit, die scheinbar nur durch weibliche Intimität und Solidarität aufgelöst werden kann. Und wie „Looping“ profitiert auch ihr zweiter Spielfilm von intensiven Bildern und einer beeindruckenden Schauspielleistung. Ob es sich um die Gelb- und Blautöne eines sommerlichen Schwimmbads, die nächtliche Geborgenheit von Noras Schlafzimmer oder das fröhliche Chaos eines Straßenumzugs handelt - die Bilder von Kameramann Martin Neumeyer tauchen die Protagonisten in leuchtend warme Farben und statten den Film mit einer fröhlichen Leichtigkeit aus, die aber nie in den geschliffenen Look einer Berlin-du-bist-so-wunderbar-Bierwerbung abgleitet. Die Bilder erinnern an leicht rotstichige Fotoaufnahmen und unterstreichen so den Zeitkapselaspekt des Films – es sind die im Rückblick zur romantischen Erinnerung geronnenen Erlebnisse eines einzigartigen, lebensverändernden und flirrend heißen Sommers.
Der Plot an sich ist dabei sicherlich nicht neu: Ein sensibles Mädchen findet nirgendwo Anschluss und wird von einer älteren Person in eine ganz neue Welt mit neuen Horizonten entführt. Aber natürlich kommt es zum Eklat, der der Protagonistin die Kehrseite der romantischen Medaille verdeutlicht: Wenn Nora per Handyvideo einen Blutmond kommentiert oder unter Tränen die vergängliche Schönheit einer Mülltüte unter Wasser beschreibt, dann erinnert das mitunter schon zu sehr an ein „Berliner Beauty“ in Anlehnung an Sam Mendes‘ „American Beauty“.
Ein Lichtblick im Großstadt- und Gefühls-Dschungel: Jella Haase als Romy!
Wenn sich die Geschichte vom Erwachsenwerden in der Feier-Metropole trotzdem so ungemein echt anfühlt, dann liegt das vor allem an den großartigen Leistungen von Lena Urzendowsky, Jella Haase und Lena Klenke. Gerade das Zusammenspiel von Urzendowsky und Klenke, die ihren Schwestern eine Mischung aus kindlicher Naivität, Straßen-Schnodder und purer Herzlichkeit verleihen, macht die sehr verschiedenen Innenwelten der Figuren greifbar. Auch die Kreuzberger Jugendclique wirkt absolut authentisch – besetzt mit toll spielenden deutsch-, türkisch- und arabischstämmigen Jugendlichen.
Gerade in den Momenten, in denen nicht der Plot vorangetrieben werden soll, sondern die Jugendlichen einfach nur existieren, etwa gemeinsam das mitunter schmerzhafte Kartenspiel Fingerkloppe zocken, beweist Krippendorfs Drehbuch seine Stärken: Die Dialoge gleiten nie in ausgelutschte Klischees über türkisch- oder arabischstämmigen Teenager ab – es ist ein lebhaftes Nebeneinander von Meinungen und Temperamenten, in dem sensible und nachdenkliche Beobachtungen sich mit wütend-aufgekratzten Sprachsalven abwechseln. Solche atmenden Passagen werden aber auch immer wieder von Momenten unterbrochen, die wirken, als habe hier Krippendorf unbedingt noch ein Thema in den Film zu quetschen versucht.
So bringt Jule etwa als Teil einer Schulaufgabe eine Babypuppe mit nach Hause, die den Jugendlichen die Schwierigkeiten der Elternschaft näherbringen soll. Ihrer ansonsten eher verantwortungsschüchternen Mutter Vivienne nötigt sie das Versprechen ab, sich in ihrer Abwesenheit um die Puppe zu kümmern. Eines Abends kommt sie nach Hause und findet den kreischenden Säuglingsroboter von Vivienne zurückgelassen in ihrem Bett vor, beginnt zu weinen und gesteht, dass sie ihre Mutter mit der Aufgabe von der Alkoholsucht ablenken wollte. Die emotionale Reaktion der Mädchen auf die mütterlichen Verantwortungslosigkeit wird ansonsten nur am Rande thematisiert und wirkt dann auch sehr viel wirkungsvoller – die Babypuppe ist als Mittel hingegen zu offensichtlich und auch klischeehaft, immerhin hat fast jede Sitcom eine Episode, in der es genau um solche Elternschafts-Übungen geht.
In einer weiteren, beispielhaften Szene finden die Schwestern bei ihrer Mutter ein Buch der feministischen Theoretikerin Judith Butler. Auf den ersten Seiten hat eine von Viviennes Saufkumpaninnen eine Geburtstagswidmung geschrieben, die an den freien Geist früherer Zeiten erinnern soll. Zwar fügt der Kontrast von feministischer Theorie und verantwortungsloser Suchtbefriedigung der Mutterfigur ein interessantes Element hinzu. Aber der intellektuelle Verweis wirkt in der Geschichte des Films so isoliert, als habe Krippendorf noch unbedingt eine Brücke zwischen der Selbstbestimmung der Schwestern und der Selbstbestimmung im Rahmen des feministischen Diskurses schlagen wollen. In solchen Moment untergräbt ein ungelenker Zeigegestus die ansonst so strahlende Stimmigkeit der Filmwelt.
Fazit: Ein großartiges gespieltes und in mutig-sommerliche Farben gehülltes Comic-of-Age-Drama, das den unvergleichlichen Vibe des Berliner Kotti auf die Leinwand bringt, mitunter aber auch auf etwas verbrauchte Klischees zurückgreift.
Wir haben „Kokon“ im Rahmen der Berlinale gesehen, wo er in der Sektion Generation gezeigt wurde.