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    Climax
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Climax
    Von Michael Meyns

    In der letzten Szene von Gaspar Noés neuem Film “Climax” träufelt sich eine Frau flüssiges LSD ins Auge. Für sie beginnt der Trip erst, der für den Zuschauer in diesem Monet, nach atemlosen, faszinierenden, exzessiven 95 Minuten gerade zu Ende geht. Ein Trip, den der für Skandale und Provokationen, aber auch für seine Experimente mit den narrativen und stilistischen Möglichkeiten des Kinos bekannte Noé diesmal mit einer Gruppe von Tänzern inszeniert hat, die eine exzessive Party feiern, die in jeder Hinsicht ausartet. In der Nebenreihe Quinzaine des réalisateurs feierte „Climax“ beim Festival in Cannes seine Weltpremiere und ist ein Höhepunkt des Jahrgangs 2018.

    Ein Saal. An der Stirnseite eine riesige französische Flagge, davor ein DJ-Pult. 24 Tänzer führen eine hyperkinetische, sexuell aufgeladene Choreografie vor, die sich bald in eine wilde Party auflöst. Es wird geflirtet und gepost, Männer begehren Frauen, Frauen Männer, Männer Männer, Frauen Frauen. Doch nach und nach merken die Beteiligten, dass sich in der Sangria-Bowle wohl eine weitere Zutat befunden hat: LSD. Was als rauschendes Fest begann, artet zunehmend in Paranoia und Gewalt aus, das kollektive Glücksgefühl wird durch Vorurteile und Hass verdrängt.

    Schon diese lose Beschreibung der Handlung hört sich alles andere als konventionell an, doch wenn man hinzudenkt, dass hier Gaspar Noé, Regisseur von solch filmischen Grenzerfahrungen wie „Irreversible“ und „Enter the Void“ das künstlerischer Zepter in der Hand gehabt hat, dann weiß man, dass die Story nur die Spitze eines extravaganten Eisbergs ist. Wie „Irreversible“ beginnt der Film mit dem Ende, eine Frau stirbt im Schnee, danach die Titel, gefolgt von einer scheinbar dokumentarischen Montage, in der die Tänzer von ihren Wünschen und Träumen und vor allem von ihren sexuellen Vorstellungen erzählen. Das ist auf einem alten Fernseher zu sehen, der von Videokassetten und einem Stapel Bücher eingerahmt wird: Rechts entdeckt man „Ein andalusischer Hund“ und „Videodrome“, links Werke von Nietzsche, Bataille und anderen.

    Mit diesen Verweisen gibt uns Noé auf von ihm gewohnte Art gleichsam eine kleine Anleitung, einen Leitfaden für seinen Film, den er erst im Februar 2018 in nur zwei Wochen gedreht hat. Ein Schnellschuss in gewisser Weise, so wie „Irreversible“ vor Jahren aus der Not und einem gescheiterten Projekt entstand. Große Teile von „Climax“ sind oder wirken improvisiert - bis auf die lange Tanzsequenz, die auf die erwähnte Montage folgt und mit der gewissermaßen der eigentliche Film beginnt. Diese Passage hat Noé in einer einzigen Einstellung eingefangen, was die atemberaubenden Bewegungen der Tänzer noch mitreißender macht. Zu Cerrones „Supernature“ kranken, voguen oder posen die Tänzer, die sich in einen Rausch steigern, was ihre Darbietung erst recht wie ein Vorspiel wirken lässt.

    Doch anders als der Titel vermuten ließe, geht es Noé hier nur bedingt um Sex. Es geht um das große Ganze, das Leben selbst, die Existenz, so wie es die drei in riesigen Buchstaben auf die Leinwand geknallten Mottos zu Beginn, in der Mitte und am Ende des Films andeuten: „Die Geburt ist eine einzigartige Möglichkeit“ – „Das Leben ist eine kollektive Unmöglichkeit“ – „Der Tod ist eine ungewöhnliche Erfahrung“. Sehr viel Interpretationsspielraum lassen diese Sätze und so soll es wohl auch sein. Wie immer ist Noé auch diesmal nicht daran interessiert, ein Thema klar zu verhandeln, sondern es zu umreißen, Möglichkeiten anzudeuten, Anstöße zu liefern, auch zu provozieren und zu schockieren.

    War es in „Irreversible“ die minutenlange Vergewaltigungsszene und in „Love“ der Cumshot mit dem Erguss direkt in die Kamera, so ist es diesmal das rauschhafte Verhalten der Tänzer, das schockieren mag. Zunehmend gewalttätig und paranoid geht es im Sog der Droge zu, die Berauschten lassen ihren Vorurteilen und Aversionen freien Lauf. All das filmen Noé und sein Stammkameramann Benoît Debie („Spring Breakers“) in langen, hypnotischen Einstellungen und verkanteten Bildern. Mal steht die Kamera auf dem Kopf, mal kreiselt sie im scheinbar freien Flug durch den Raum – sie kennt keine Grenzen. Ebenso wenig wie Noé, der hier erneut radikal wie kaum ein Zweiter die Möglichkeiten des Kinos auslotet und den Zuschauer einmal mehr auf eine extreme filmische Grenzerfahrung mitnimmt, diesmal unterlegt von einem 95-minütigen Soundtrack aus elektronischer Tanzmusik. So ist auch „Climax“ selbst ein Rausch: mitreißend, atemberaubend und verstörend.

    Fazit: Gaspar Noés „Climax“ ist ein 95-minütiger filmischer Rausch, ein mitreißender Exzess, der sich jeglicher Konvention entzieht. Und unter der experimentellen Oberfläche verhandelt der Regisseur die großen Themen Sex und Drogen, Leben und Tod.

    Wir haben „Climax“ bei den Filmfestspielen in Cannes 2018 gesehen, wo er in der Sektion Quinzaine des réalisateurs gezeigt wurde.

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