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    Ausgeflogen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Ausgeflogen

    Eine Glucken-Mutter lernt das Loslassen

    Von Oliver Kube

    Meine Fantasie ist gleich null“, gesteht Regisseurin und Drehbuchautorin Lisa Azuelos überbescheiden und mit mehr als nur einem Hauch von Selbstironie im Interview für das Presseheft zu ihrer Tragikomödie „Ausgeflogen“. Die Französin versucht so zu erklären, weshalb die meisten ihrer Filme wie „Ein Augenblick Liebe“, „LOL“ oder „Hey Good Looking!“ stark autobiografische Züge aufweisen. In Wahrheit steckt dahinter aber ihre Gabe, eigene Erfahrungen in universell nachempfindbare Geschichten zu verpacken. In ihren Werken – sogar im Sängerinnen-Biopic „Dalida“ – geht es eigentlich immer, auf natürliche und authentische Weise, um die Liebe. Egal, ob es sich dabei um die romantische Variante, um die Beziehung zu sich selbst oder – wie hier – primär um die Verbindung zwischen einem Elternteil und seinem Kind handelt. Es hilft natürlich, dass dieses schönste, dabei oft auch schmerzhafteste aller Gefühle jedem von uns vertraut ist. Azuelos Talent liegt darin, Storys zu erzählen, deren Ursprung in ihren eigenen Erfahrungen und Empfindungen liegt, in denen sich das Publikum aber schnell und ohne Umschweife selbst wiederfindet.

    Die Pariserin Héloïse (Sandrine Kiberlain) hat drei Kinder, die sie nach der Scheidung von ihrem Mann (Yvan Attal) allein großgezogen hat. Zwei von ihnen sind mittlerweile erwachsen und stehen zumindest halbwegs auf eigenen Füßen. Worüber die patente Betreiberin eines kleinen Bistros durchaus erleichtert ist. Nun nähert sich ihre Jüngste Jade (Thaïs Alessandrin) allerdings ebenfalls dem Schulabschluss und plant danach ausgerechnet im fernen Kanada zu studieren. Plötzlich realisiert Héloïse, dass sie bald zum ersten Mal seit vielen Jahren mit sich allein sein wird und damit den Sinn in ihrem Leben zu verlieren droht. Verzweifelt versucht sie zunächst, die immer näher rückende Abreise und sogar Jades Abitur zu sabotieren. Zumindest diesbezüglich zur Vernunft gekommen, beginnt die trotzdem immer neurotischer werdende Mutter danach die letzten gemeinsamen Wochen minutiös zu planen und mit ihrem Handy jeden mondänen Moment zu filmen. Dass „ihre Kleine“ damit überhaupt nicht einverstanden ist und lieber mit ihrem Freund (Mickaël Lumière) allein sein möchte, stört Héloïse nur peripher...

    Mama Héloïse kann nicht loslassen...

    Sandrine Kiberlain („Verliebt in meine Frau“) ist brillant in ihrer Darstellung einer Single-Mutter, die glaubt, alles gesehen zu haben, mit sämtlichen Schwierigkeiten umgehen zu können und nun doch nicht mehr weiß, was sie tun soll. Eben noch lacht man über die Unbeholfenheit ihrer Héloïse, dann möchte man sie frustriert anschreien und sie im nächsten Moment schon wieder tröstend in den Arm nehmen. Eine herausragende schauspielerische Leistung, die nicht nur von der perfekt austarierten Mimik und Körpersprache der Aktrice, sondern auch von den lebensecht geschriebenen Dialogen und speziell der wichtigsten Szenenpartnerin profitiert.

    Die Rede ist natürlich von Thaïs Alessandrin, die die Tochter mit erstaunlichem Einfühlungsvermögen spielt. Jeder Zeit ist ihrer Figur der in ihr arbeitende Zwiespalt anzumerken. Einerseits kann Jade es nicht erwarten, sich endlich ihre Unabhängigkeit zu erstreiten und ihr Dasein als Erwachsene zu beginnen. Andererseits spürt sie ganz genau, wie es der Mutter dabei geht, ihr bei diesem Abnabelungsprozess zusehen und ihn ertragen zu müssen. Alessandrin ist Azuelos‘ eigene Tochter und stellt die Situation ergreifend realistisch dar. Sie spielte als Kind bereits in „LOL“ mit, bekleidete dort allerdings nur einen kleineren Part. Hier gibt sie ihr Hauptrollendebüt und verkörpert auf wunderbare Weise eine Art komödiantisch als auch dramatisch überhöhte Version von sich selbst – was deutlich leichter klingt, als es gewesen sein dürfte. Vor allem, da die eigene Mutter hinter der Kamera steht und jede Regung, jeden Gesichtsausdruck bewertet.

    ... aber Tochter Jade will natürlich trotzdem ihren eigenen Weg gehen.

    Azuelos erzählt ihre Geschichte aus der Sicht von Héloïse und arbeitet mit jeder Menge Flashbacks. Das mag zu Beginn schon mal für etwas Verwirrung sorgen, wenn das Publikum die Charaktere noch nicht gut genug kennt, um immer gleich zu wissen, wo im Zeitrahmen der vergangenen 18 Jahre es sich gerade befindet. Doch das ist gar nicht so schlimm. Im Gegenteil, denn dieser Kunstgriff illustriert geschickt den Geisteszustand der Protagonistin und ihre Sichtweise auf das Leben mit beziehungsweise für ihren Spross. Denn Jades Geburt ist in Héloïses Bewusstsein weiterhin ebenso stark präsent und allgegenwärtig wie die Trennung vom Vater, die Einschulung, der Beginn der Teenagerzeit oder die Gegenwart mit ihrer Jüngsten.

    Besonders amüsant und zugleich rührend ist die Szene, in der Héloïse ihr Smartphone verliert. Schließlich hat sie versucht, mit diesem jeden nur erdenklichen gemeinsamen Moment des Duos per Video zur späteren Erinnerung festzuhalten – sehr zum Verdruss von Jade und unter abfälligen, leicht eifersüchtigen Bemerkungen ihrer Geschwister. Trotzdem setzen Jade, Schwester Lola (Camille Claris aus „Respire“) und Bruder Théo (Jean-Paul Belmondos Enkelsohn Victor) alle Hebel in Bewegung, um der panischen Mutter zu helfen, das für sie so unersetzbar erscheinende Handy zurückzubekommen. Letztlich realisiert Héloïse allerdings, dass sie keine solche Krücke braucht. Sie schafft es, den Moment mit ihren sie offensichtlich aus tiefsten Herzen liebenden Kindern zu genießen. Spätestens jetzt dürften sogar Kinobesucher, die selbst (noch) keinen Nachwuchs haben, Probleme bekommen, nicht doch das eine oder andere Tränchen zu verdrücken.

    Fazit: Eine ebenso anrührende und witzige Story über einen Moment im Leben, der jeden von uns ereilt, der Kinder hat.

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