Dieser Regisseur ist kein One-Hit-Wonder
Von Sidney ScheringMit seinem viel beachteten Langfilmdebüt „Martha Marcy May Marlene“ schuf der Regisseur und Drehbuchautor Sean Durkin ein aufreibendes Familiendrama, das sich zuweilen wie ein Horrorfilm anfühlt. Und das nicht nur, weil die vom späteren Marvel-Star Elizabeth Olsen („WandaVision“) gespielte Protagonistin zu Beginn einer offenbar gefährlichen Sekte entkommt – vielmehr wohnt Durkins Inszenierung eine stete, bisweilen verstörende Anspannung inne.
In seinem zweiten Langfilm, „The Nest – Alles zu haben ist nie genug“, vereint Durkin nach fast zehnjähriger Pause erneut die Charakterschärfe eines Dramas mit der unterschwelligen Spannung eines Horror-Thrillers: Für eine Familie wendet sich alles zum Schlechten, sobald sie ein altes, seit langem leerstehendes Anwesen bezieht. Nur sind dafür diesmal keine Geister die Schuld. Stattdessen ist das, wofür das protzige Gemäuer steht, in „The Nest“ die Wurzel des Übels…
Bei Rory (Jude Law) und Allison (Carrie Coon) ist nicht von Anfang an alles schlecht ...
Der ehrgeizige Unternehmer Rory O’Hara (Jude Law) überredet seine amerikanische Frau Allison (Carrie Coon), gemeinsam mit den zwei Kindern nach Europa zu ziehen. Allison hadert zwar mit dem Vorschlag, immerhin hieß es kurz zuvor noch, dass der gerade erst vollzogene Umzug in eine gemütliche US-Vorstadt der letzte bleiben soll. Aber Rory hat überzeugende Argumente: In seiner alten Heimat England winke ihm ein Job mit immensen finanziellen Versprechungen – und um seiner Familie den Umzug schmackhaft zu machen, pachtet er zudem ein historisches Landgut mit genug Platz für Allisons Pferde.
Aber schon zeigt sich, dass der lukrative Neuanfang womöglich auch seine dunklen Seiten hat: An beruflicher Front tun sich für Rory unerwartete Hindernisse auf, während die Isolation im überwältigend großen und abgeschieden gelegenen Herrenhaus dafür sorgt, dass sich Rory, Allsison sowie ihre Kinder Sam (Oona Roche) und Ben (Charlie Shotwell) zunehmend auseinanderleben. Das Fundament, auf dem diese Familie fußt, beginnt zu bröckeln…
Alles beginnt mit einem dissonant klimpernden Klavier. In den anschließenden rund 100 Filmminuten spielt sich der Score von Arcade-Fire-Mitglied Richard Reed Parry zwar nur noch selten in den Vordergrund – aber wann immer er sich bemerkbar macht, fällt er durch eine unheilvolle Disharmonie auf. Damit gibt Parrys Musik den Ton für „The Nest“ vor – zumindest partiell: Es wird zwar mangelnde Harmonie sein, die den O’Haras im Laufe des Films zum Verhängnis wird – und die intensive Dissonanz der Eröffnungsklänge spiegelt sich dahingehend wider, dass Sean Durkin diesem Familiendrama in regelmäßiger Taktung eine angespannte Horrorästhetik verpasst. Aber genial ist „The Nest“, weil der Film letztendlich deutlich filigraner operiert, als es der musikalische Klimper-Auftakt vielleicht noch vermuten lässt.
So wird in „The Nest“ die Maxime „Show, don't tell“ konsequent großgeschrieben: Das Auseinanderleben Rorys und Allisons wird von Durkin überwiegend non-verbal vorgeführt. Etwa indem kleine, liebevolle Rituale des Paares auf einmal ausbleiben. Wenn die stets gleich gefilmte0 Sequenz, wie Rory seine Frau weckt, indem er ihr eine Tasse Kaffee ans Bett bringt, einer identischen Einstellung weicht, in der Allison allein aufwacht, entfaltet dies eine enormen emotionale Wirkung. Einerseits, weil Durkin diese Wiederholung zu einer Art Anker aufgebaut hat, der uns im ersten Drittel wenigstens etwas Halt in einer Erzählung mit unklarer Richtung gibt. Somit ergeht es uns als Publikum ähnlich wie der Familie, die sich auf Rorys Wunsch ins Ungewisse wagt. Und andererseits, weil die unausgesprochenen Gedanken und Implikationen, weshalb Rory das Ritual aufgegeben hat, schwerer wiegen als es jede verbal ausgetragene Debatte zwischen ihm und Allison je könnte.
... und zunächst sieht es auch noch so aus, als würde in der neuen Heimat alles nach Plan laufen ...
Darüber hinaus skizziert Durkin den Zerfall der ehelichen Liebe sowie der elterlichen Fürsorge im Hause O’Hara zwar überaus eindringlich – allerdings mit schmerzend-genau beobachtender Ruhe statt mit schallender Deutlichkeit: Wenn sich beispielsweise Allison und ihre Tochter Sam streiten, und Sams Bruder seiner Schwester erklärt, dass Allison kürzlich einen schmerzenden Verlust hinnehmen musste, räumt Sam den Zwist mit ihrer Mutter zwar kurzzeitig beiseite – danach bleibt das Verhältnis zwischen Sam und ihrer Mutter, die sich in die neue Heimat nicht einleben kann, aber angespannt. Diese kleine Geste eines flüchtigen Friedens zwischen Mutter und Tochter verstärkt so nur den emotionalen Ballast, denn die sich ohnehin voneinander entfernenden O’Haras mit sich herumschleppen.
Durkin erzählt in „The Nest“ nicht von einer Familie, bei der eh jegliche Hoffnung verloren ist, was dem Publikum eine möglich emotionale Ausflucht geben würde: „Wieso mitfühlen? Diese Familie hat keine Chance mehr!“ Stattdessen könnten die O’Haras wohl doch noch die Kurve kriegen. Umso trauriger und frustrierender ist es daher, wenn sich die Situation aufgrund von Missverständnissen, flüchtigen schlechten Launen und vor allem aufgrund von Rorys unbändigem Ehrgeiz, endlich in die Klasse der oberen Zehntausend vorzustoßen, nur noch immer weiter verschlimmert.
In dieses so glaubwürdig gemäßigte Familiendrama, in dem eben nicht alles sofort unrettbar den Bach runter geht, sobald sich die ersten Unstimmigkeiten offenbaren, webt Durkin meisterlich die schon erwähnte Schaueratmosphäre ein: Der Regisseur und sein Kameramann Mátyás Erdély („Son Of Saul“) zeigen das schummrig ausgeleuchtete englische Landhaus in Weitwinkelaufnahmen, die von einer erdrückenden Leere bestimmt sind. Die detailreiche, aber auch monotone Wandvertäfelung hat einen desorientierenden Effekt, ebenso wie die zahlreichen Geheimtüren und -fächer, die Rory und insbesondere Allison immer wieder entnervt suchen. Erdély lässt seine Kamera dabei so langsam die Gänge entlang schleichen, als würden sie eine übernatürliche, boshafte Präsenz implizieren.
Aber es sind keine buchstäblichen Geister, die diesem Anwesen innewohnen, sondern sprichwörtliche Dämonen: Die ständigen, akzentuierten Leerräume in den Aufnahmen des Anwesens verdeutlichen, wie gierig und großkotzig Rory handelt. Das Landhaus sieht mangels Inneneinrichtung nicht so prunkvoll aus, wie er es sich ausmalte, sondern verlassen und deprimierend. Es ist viel zu weitläufig für diese Familie, die sich konsequenterweise in ihm verliert – und das in jeglichem Wortsinne. So unterstreicht Dunkin, wie einsam sich Allison in diesem alten Gemäuer fühlt und dass ständiges, unverhältnismäßiges Erfolgsstreben keine Erfüllung bietet, sondern im Gegenteil nur immer größere Leere offenbart.
... aber letztendlich scheint die Leere des großen Hauses doch unvermeidlich auf die neuen Bewohner überzugreifen.
Das drückt sich auf beeindruckende Weise auch in den Gesichtern von Jude Law („Phantastische Tierwesen 3“) und Carrie Coon („Avengers 3“) aus, die hier beide zu Hochform auflaufen: Während zu Beginn des Films noch eine gewisse Friedfertigkeit von in ihrer Mimik liegt, verhärten sich Coons Gesichtszüge sukzessive – bis sie einen abfälligen Kommentar zu Rorys Großkotzigkeit mit einem verschmitzten Lächeln abliefert, das tiefe Wunden hinterlässt. Law wiederum spielt Rory als einen an sich charismatischen Niemand, der jedoch riesige Angst davor hat, als solcher betrachtet zu werden: Aus einem herzlichen Ehemann mit gelegentlich aufblitzender Yuppie-Attitüde wird eine leere, protzende Hülle.
Der Leichtsinn, mit dem Rory große Summen aufs Spiel setzt, würde ihn in einem Film über Börsenspekulanten zum widerlichen Schurken machen. Doch in „The Nest“ erhält das Publikum genügend Einblicke in seine zwar wohlmeinende, aber schwer verblendete Persönlichkeit, so dass er nicht nur Frust provoziert, sondern auch Mitleid erregt. Mitleid, das verständlich macht, weshalb sich Allison durch dieses Ehetief quält, statt bei erstbester Gelegenheit aufzubegehren: Es ist dieses beklemmende Gefühl, dass weder Bleiben noch Trennung der richtige Weg ist, das noch so lange in den leeren Gängen des ach so großen Anwesens nachhallt…
Fazit: „The Nest“ ist ein fantastisch inszeniertes Familiendrama mit verstörender Schaueratmosphäre – auch wenn er sich nach seinem gefeierten Erstling „Martha Marcy May Marlene“ zehn Jahre zeitgelassen hat, ist Sean Derkin definitiv kein One-Hit-Wonder.