Nach der mehr als drei Dekaden andauernden Militärdiktatur (ab 1954) sowie dem Staatsstreich von 2012 ist es mehr als verständlich, dass viele Bürger Paraguays nicht besonders gut auf ihre alten und neuen Eliten zu sprechen sind. Auch der 1973 geborene Marcelo Martinessi hat die politische Willkür am eigenen Leib zu spüren bekommen, immerhin leitete er seit seiner Gründung 2010 den ersten öffentlich-rechtlichen TV-Sender des Landes, bevor dieser nur zwei Jahre später nach dem politischen Putsch sofort wieder eingestellt wurde. Da muss doch eine Menge Wut in ihm und seiner Generation stecken, so könnte man zumindest meinen. Aber obwohl es in Martinessis im Wettbewerb der Berlinale uraufgeführten Langfilmdebüt „Die Erbinnen“ um die Profiteure von jahrzehntelangem Unrecht geht, sucht man darin vergebens nach Wut, ganz im Gegenteil: Der Regisseur und Drehbuchautor nähert sich seiner Protagonistin, einer einst reichen Erbin aus wohlhabender Familie, mit fast schon übermenschlichem Verständnis. Was leicht der Stoff für eine bissige Satire oder eine gehässige Farce hätte sein können, wird bei ihm zu einem unendlich zärtlichen Porträt einer in die Jahre gekommenen Frau im längst durchgerosteten goldenen Käfig.
Immer wieder kommen potentielle Käufer ins Haus, um sich die wertvollen Kristallgläser und den antiken Küchentisch anzuschauen: Chela (Ana Brun) und Chiquita (Margarita Irún) sind schon seit mehr als 30 Jahren zusammen, aber nun geht ihnen, nachdem sie immer nur von ihrem Erbe gezehrt haben, langsam aber sicher das Geld aus. Als Chiquita sogar für einen Monat wegen Betrugs ins Gefängnis muss, steht Chela vor einer riesigen Herausforderung, denn es war ihre Partnerin, die sich immer um alles gekümmert hat – vom Autofahren über das Anleiten der Haushaltshilfe bis zu den Finanzen. So ist Chela plötzlich gezwungen, zum ersten Mal in ihrem Leben auf eigenen Beinen zu stehen. Durch Zufall erhält sie die Möglichkeit, ihre ältere Nachbarin und deren Freundinnen für kleines Geld zu Terminen durch die Stadt zu fahren – und so nimmt Chela zum ersten Mal selbst das Steuer in die Hand, auch ohne Führerschein...
Auch wenn sie kurz vor der Pleite steht, klammert sich Chela noch immer an die letzten verbliebenen Statussymbole ihres früheren elitären Lebens. Eine ausgebildete Haushaltshilfe kann sie sich nicht mehr leisten, aber für die neue ungelernte Magd schraubt sie ihre Ansprüche nicht herunter. So legt sie etwa weiterhin allergrößten Wert darauf, dass die Tassen und Gläser auf dem Frühstückstablett exakt so angeordnet sind, dass die Herrin möglichst bequem ihren Kaffee trinken kann. Das hätte leicht ein Moment sein können, in dem die Lebensfremdheit, das Abgehobene, das Unmenschliche der (einstigen) Eliten entlarvt wird. Aber bei Martinesse hat dieser Augenblick nichts Gehässiges an sich, er offenbart vielmehr eine tiefe Tragik, indem er zeigt, dass auch Chela in einer gesellschaftlichen Rolle gefangen ist, aus der es so leicht kein Entkommen gibt. Sowieso steckt „Die Erbinnen“ voll von solchen feinen Beobachtungen, etwa wenn Chiquita ihre Partnerin am Gefängnistor tröstet, obwohl sie es doch ist, die da gleich hinter Gitter muss. Und die Einrichtung der Wohnung vermittelt auf subtile Weise zugleich, dass da mal viel Geld gewesen sein muss und dass diese Tage schon länger vorbei sind.
Nach dieser präzise beobachteten Einführung erzählt Martinessi dann davon, wie Chela zum ersten Mal in ihrem Leben auf den Fahrersitz wechselt, und sei es nur, um reiche Bekannte für ein Taschengeld herumzukutschieren. Das hat dann durchaus etwas von diesen Rentner-wagen-noch-mal-was-Wohlfühl-Filmen, von denen zuletzt immer mehr in die Kinos kommen, auch weil die Filmindustrie ältere Zuschauer als zuverlässige Zielgruppe identifiziert hat. Aber vom Alterskitsch der Traumfabrik ist „Die Erbinnen“ trotzdem meilenweit entfernt – auch weil Martinessi das Plot-Klischee von der Trophy Wife, die sich im hohen Alter endlich von ihrem bestimmenden Ehemann befreien kann, mit einer lesbischen Beziehung im Zentrum konsequent unterläuft. Stattdessen kommen Männer hier überhaupt nur sehr am Rande vor, wahrscheinlich sagt keiner von ihnen im ganzen Film mehr als zwei Sätze. Zudem präsentiert Martinessi ein sehr viel spannenderes und ambivalenteres Ende als die meisten Hollywood-Pendants – denn womöglich ist das klassische Happy End, bei dem alles wieder gut wird und sie gemeinsam glücklich bis ans Ende ihrer Tage leben, gar nicht immer erstrebenswert. Aber ein goldener Käfig, der schon anständig durchgerostet ist, hat ja auch was Gutes – er lässt sich viel leichter aufsprengen.
Fazit: Eine wohlbehütete Erbin, die in ihrem Luxus-Leben noch nichts groß geleistet hat, aber plötzlich pleite ist – das ist der Stoff für Klamauk-Komödien, gehässige Satiren oder wie in diesem Fall für ein zärtliches, zu Herzen gehendes und mutmachendes Porträt einer erst spät, aber vielleicht noch nicht zu spät zu sich findenden Frau.
Wir haben „Die Erbinnen“ bei der Berlinale 2018 gesehen, wo der Film im Wettbewerb gezeigt wird.