Das Partyspiel „Reise nach Jerusalem“ wird fast überall auf der Welt gespielt. In den Niederlanden wird es „Stuhltanz“ genannt, in Rumänien „Vöglein, such dein Nest“ und in weiten Teilen der englischsprachigen Welt ist es als „Musikalische Stühle“ bekannt. Dieser Begriff hat sich in manchen Ländern zudem als geflügeltes Wort durchgesetzt, um ironisch zu kommentieren, wenn Leute sinnlos von einer Station zur nächsten weitergereicht werden. Etwa, wenn Manager innerhalb einer Firma ihre Fantasietitel und Positionen tauschen, um Bewegung innerhalb des Unternehmens zu suggerieren. Oder aber, wenn in einer instabilen Regierung Politikerposten ständig umbesetzt werden.
Die seit 2005 in Berlin lebende, ursprünglich aus Italien stammende Regisseurin und Autorin Lucia Chiarla („Bye Bye Berlusconi!“) dagegen nutzt in „Reise nach Jerusalem“ das Stuhl-Spiel als Metapher für die Arbeitssuche: Es gibt mehr Suchende als Plätze. Wer es sich mit seinem Hintern zuerst bequem macht, hat in den meisten Fällen schlicht mehr Glück als die anderen. Und wer keinen Platz findet, hat verloren und wird aus dem Spiel genommen. Aber die ohne Fördermittel oder Senderbeteiligung entstandene Tragikomödie ist keinesfalls nur ein verfilmtes Sinnbild. Stattdessen erzählt Chiarla von einer alleinstehenden, arbeitslosen Enddreißigerin - und das nicht nur auf einfühlsame und spannende Weise, sondern in Anbetracht der prekären Situation der Protagonistin auch mit erstaunlich viel Witz.
Warten, jeden Euro zwei Mal umdrehen, warten, flunkern und warten: Das ist das Leben von Alice (Eva Löbau), seit sie ihre Anstellung in einer Werbefirma verloren hat. Sie hält sich an einen strengen Tagesablauf, schickt eine Bewerbung nach der anderen ab, befolgt brav die Weisungen des Jobcenters und gaukelt ihren Freunden vor, eine erfolgreiche Freelancerin zu sein. Denn sie möchte auf keinen Fall als glücklose oder gar schmarotzende Versagerin gelten. Nur gegenüber ihren Eltern (Veronika Nowag-Jones und Axel Werner) offenbart sie sich, erzählt von der mühseligen Berufssuche und den Erlebnissen im Jobcenter. Wie knapp das Geld ist und wie sehr das ewige Warten schlaucht, verheimlicht Alice dagegen auch ihnen. Als sie eines Tages entnervt aus einem inhaltsleeren Seminar flüchtet, das ihr vom Jobcenter aufgebrummt wurde, kürzt man ihr das ohnehin schon geringe Arbeitslosengeld noch weiter. Die ewige Reise nach Jerusalem wird für die Alleinstehende endgültig zur Zerreißprobe…
Schon direkt zu Beginn von „Reise nach Jerusalem“ zeigt Lucia Chiarla, was in ihrer Protagonistin vorgeht: Alices einstudiertes, freundliches Lächeln und ihre heiter-optimistische Stimme sind reine Maskerade. Innerlich dagegen fühlt sie sich außen vor in einer Gesellschaft, in der man zunehmend auf den beruflichen Erfolg reduziert wird. Die Regisseurin platziert Alice zudem im unteren Drittel des Bildes, den Rest füllt die hellblaue Wand hinter ihr. Auch später drängen Chiarla und ihr Kameramann Ralf Noack („Zorn - Kalter Rauch“) die Protagonistin oft in eine der unteren Bildecken – bevorzugt in fast schon aufdringlichen Nahaufnahmen, bei denen der monotone Bildhintergrund stets verschwimmt. Ihre Gesprächspartner sind nur gelegentlich mit ihr zusammen zu sehen, womit Chiarla die gefühlte Isolation ihrer Hauptfigur auf subtile Weise unterstreicht.
Dies bleibt aber nicht der einzige Kniff, mit dem Chiarla ihr Publikum an Alices Situation teilhaben lässt. So vermittelt die Regisseurin etwa nachvollziehbar, wie sehr der Alltag eines Arbeitslosen aus unendlicher Warterei besteht. Wir sehen Alice, wie sie am Telefon verharrt, während sie darauf hofft, dass die Warteschleifenmusik aufhört – stattdessen geht diese dann nahtlos in die Filmmusik über. Wenn Alice jemanden besucht, lässt Chiarla einige Sekunden länger als sonst in Filmen üblich vergehen, ehe die Tür geöffnet wird. Und beim Friseur wird Alice in eine triste Real-Version des titelgebenden Spiels verwickelt, wenn sie vergeblich versucht, im Wartebereich einen Sitzplatz zu ergattern.
Dessen ungeachtet hat Chiarla mit „Reise nach Jerusalem“ keineswegs einen trübseligen Problemfilm geschaffen. Wie Thomas Stuber in „In den Gängen“ begegnet auch sie ihren Figuren mit einer herzlichen Empathie, die man sonst in deutschen Sozialdramen meistens vermisst. Bei den Alltagsbeobachtungen wird jeglicher Armuts-Voyeurismus vermieden. Denn nicht nur die Kamera rückt eng an Alice – auch die Erzählperspektive ist unmittelbar und subjektiv, weil konsequent aus Alices Sicht erzählt wird. Auch die sensible Darstellung der „Einsamkeit und Sex und Mitleid“-Mimin Eva Löbau sorgt für einen hohen Identifikationsfaktor: Wenn Alice genervt aus einem Seminar stapft, in dem solcher Unfug wie „Grün ist eine tolle Farbe für eine Bewerbungsmappe!“ verzapft wird, sehen wir keine Querulantin, sondern eine pflichtbewusste Frau, die ihr Leben schnellstens wieder in geordnete Bahnen bringen will. Und eine Alltagsheldin, deren Geduldsfaden nach langer, zermürbender Warterei gerissen ist.
Beeindruckend ist dabei, wie subtil sich Löbau im Laufe der gut zwei Stunden einer Wandlung unterzieht. Anfangs muss sich Alice die ständigen Notlügen noch abringen, doch sukzessive werden die Flunkereien für sie mehr und mehr zu alltäglichen, sinnentleerten Floskeln, die sie abstumpfen lassen. Umso berührender ist es, wenn Löbaus Augen aufleuchten, weil Alice nach frustrierenden Absagen („Sie wären für uns überqualifiziert“) und gut gemeinten Ratschlägen („Versuch es doch als Pflegerin!“) wieder einen Silberstreif am Horizont sieht. Und das macht „Reise nach Jerusalem“ so kurzweilig und spannend. Durch Chiarlas Inszenierung und Löbaus Spiel kann man mit Alice mitleiden, neuen Chancen entgegenfiebern und empört den Heuchlern ins Gesicht lachen, die beim Stuhltanz einfach nur Glück hatten und selbstgefällig ihren Hintern schneller auf einen sicheren Arbeitsplatz pflanzen konnten als andere.
Fazit: In „Reise nach Jerusalem“ versetzt Lucia Chiarla ihr Publikum in die verfahrene Lage einer allein gelassenen, aber sich unermüdlich bemühenden Arbeitslosen – gespielt von einer beeindruckenden Eva Löbau. Eine ebenso berührend wie überraschend kurzweilige und trockenhumorige Erfahrung.