Ein Mädchen sieht pink
Von Christoph PetersenSystemsprenger, das klingt nach Revoluzzer, Aufruhr, einem Fall für den Verfassungsschutz. Aber selbst der wäre hier wohl machtlos. Im Fachjargon steht der Begriff nämlich nicht etwa für einen Feind des Grundgesetzes, sondern für ein Kind, das derart außer Kontrolle geraten ist, dass es das für solche Fälle gedachte System aus Jugendamt, Wohngruppen und Schulbegleitern schlichtweg sprengt. Dass auch die Protagonistin aus Nora Fingscheidts gleichnamigem Berlinale-Wettbewerbsbeitrag ein solcher „Systemsprenger“ sein soll, mag man anfangs kaum glauben, schließlich erscheint die neunjährige Benni (Helena Zengel) auf den ersten Blick absolut harmlos und liebenswürdig. Aber wenn sie wenig später pöbelnd und prügelnd durch die Straße zieht, erinnert sie plötzlich an Regan aus „Der Exorzist“ - ganz ohne Dämon, dafür schwer traumatisiert.
Solche Ausbrüche mitzuerleben, ist im ersten Moment amüsant, weil es einfach so dermaßen unerwartet und überraschend kommt, wenn das süße, liebe, blonde Mädchen einem Rentner beim Gassigehen aus heiterem Himmel die übelsten Beleidigungen an den Kopf wirft. Aber dann erkennt man schnell, dass Benni eben nicht einfach nur ein bockiges Kind ist, kein typischer Fall für die Super Nanny, bei dem ein paar Mal Stille Treppe schon einen gewaltigen Fortschritt bedeuten kann - und ab da an sind die Ausraster plötzlich verstörend, manchmal wirklich wie in einem Horrorfilm, etwa wenn Benni den Kopf eines kleinen Jungen, der ihr beim Schlittschuhlaufen versehentlich ins Gesicht gefasst hat, immer und immer wieder mit erstaunlicher Kraft aufs Eis schlägt.
Letztlich führen einem die Anfälle vor allem die eigene Hilflosigkeit vor Augen, denn im Kinosessel fühlt man sich irgendwann genauso machtlos wie die aufopferungsvolle Frau Bafané (Gabriela Maria Schmeide) vom Jugendamt oder der toughe Schulbegleiter Michael Heller (Albrecht Schuch), der mit Benni sogar für drei Wochen in eine einsame Hütte im Wald fährt, damit sie dort vielleicht einmal zur Ruhe findet. In jedem Moment der Besinnung, der Einkehr, der Zärtlichkeit möchte man glauben, dass doch jetzt bestimmt wieder alles gut wird - und viele Filme hätten irgendwann einen dieser Augenblicke genutzt, um geschmeidig zu einem Happy End überzuleiten. Aber so leicht macht es Nora Fingscheidt sich, ihren Figuren und dem Zuschauer nicht. Hier gibt es keine Abkürzungen, nicht die eine Sache, die man nur richtig machen muss, damit alles wieder gut wird.
Klingt nach harter Kinokost - und ist es in gewisser Hinsicht auch, denn kalt lässt einen das Schicksal der Systemsprengerin ganz sicher nicht. Trotzdem wird ein ganz anderer Ton getroffen, als man es von einem klassischen Problemfilm erwarten würde. Wenn Benni ausrastet, dann sieht sie nicht grau oder schwarz, sondern pink - und „Systemsprenger“ ist auch nicht trocken oder bedrückend, sondern rasant, aufwühlend, mitreißend. Das liegt neben der erstaunlich temporeichen Inszenierung vor allem an Helena Zengel, die als Benni eine solch explosiv-ansteckende Energie entwickelt, dass man von ihr selbst in den extremsten Situationen nie genervt ist, sondern wie in einem Sog von ihr mitgerissen wird.
Kinderdarsteller sind ja oft deshalb so überzeugend in ihren Rollen, weil die Macher ganz einfach Ewigkeiten gesucht haben, um ein Kind zu finden, das eh perfekt zu dem Part passt, weshalb dann auch gar nicht mehr so wahnsinnig viel geschauspielert werden muss. Aber Benni rastet innerhalb von Sekundenbruchteilen aus, als wäre in ihrem zarten Körper einfach nur ein Schalter umgelegt worden - das geschieht mitunter so schnell, dass man auch als Zuschauer vollkommen von der Situation überfordert ist. Das ist nicht nur eine grandiose Leistung, sondern eine grandiose Schauspielleistung - ein Lob, mit dem wir gerade bei Kinderdarstellern sehr, sehr vorsichtig umgehen.
An einer Stelle des Films entscheidet Michael, dass er den Fall abgeben will - und zwar nicht, weil Benni ihm zu krass ist, sondern weil er Rettungsphantasien entwickelt, die er einfach nicht mehr abschütteln kann und die ihm einen professionellen Umgang mit der Situation unmöglich machen. Das wird auch einem Großteil des Publikums nicht anders gehen: Würde man die Zuschauer an verschiedenen Stellen des Films befragen, ob sie jetzt lieber ein klassisches Happy End sehen wollen, bei dem Benni vielleicht doch einfach bei Michael einzieht oder sogar zu ihrer Mutter zurückkehren kann, würde mit Sicherheit eine überwältigende Mehrheit dafür stimmen.
Aber während wir uns womöglich gehen lassen würden, bewahrt Fingscheidt zum Glück die nötige Professionalität und begegnet ihren Figuren zwar mit der größtmöglichen Empathie, aber auch ohne jeden Anflug von falscher Sentimentalität. Eine Wahnsinnsleistung. Schließlich hätte sie das, was jeder im dunklen Kinosaal unbedingt will, nämlich Benni vor sich selbst und ihren Traumata zu retten, mit einem einzigen Fingerschnipsen schaffen können. Aber dafür hätte sie die Integrität ihres herausragenden Drehbuchs zerstören, ihre eigentliche Geschichte verraten müssen.
Fazit: „Systemsprenger“ beschönigt nichts, liefert keine einfachen Antworten, geht da hin, wo es weh tut - und trotzdem ist das Spielfilmdebüt von Nora Fingscheidt alles andere als ein trockener Problemfilm, sondern eine mitreißende, berührende Leinwand-Tour-de-Force, in der das Kinopublikum die Machtlosigkeit aller Beteiligten am eigenen Körper zu spüren bekommt.
Wir haben „Systemsprenger“ im Rahmen der Berlinale 2019 gesehen, wo er im offiziellen Wettbewerb gezeigt wurde.