Das Mammut unter den Mafia-Prozessen
Von Christoph PetersenDer inzwischen 79-jährige Regisseur Marco Bellocchio („Buongiorno, notte - Der Fall Aldo Moro“) ist nicht gerade dafür bekannt, einfach nur sauberes Handwerk abzuliefern. Stattdessen drückt er auch historischen Ereignissen regelmäßig seinen ganz eigenen Stempel auf. So erzählt er etwa in seinem meisterhaften „Vincere“ die Geschichte von Ida Dalser, der ersten Frau des späteren Faschismus-Anführers Benito Mussolini, als mitreißendes Melodrama. In Bellocchios Mafia-Epos „Il Traditore - Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra“ über den hochrangigen Cosa-Nostra-Boss und späteren Kronzeugen Tommaso Buscetta lässt sich eine solche eigene Handschrift allerdings nur selten ausmachen. In der ersten Hälfte fühlt man sich vor allem an die vielen Serien erinnert, die in den vergangenen Jahren über die italienische Mafia und den Drogenhandel in Südamerika erschienen sind. Aber mit Beginn der Maxi-Prozesse, bei denen in den Achtzigerjahren mehr als 450 Mafia-Leute angeklagt und viele von ihnen auch verurteilten wurden, entwickelt „Il Traditore - Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra“ doch noch seine ganz eigenen Qualitäten.
Zu Beginn der Achtziger bricht ein Krieg zwischen zwei Gruppierungen der sizilianischen Mafia aus, der regelmäßig in Blutbädern endet. Der hochrangige Boss Tommaso Buscetta (ganz stark: Pierfrancesco Favino) geht zu dieser Zeit nach Brasilien – offiziell, um sich um das dortige Drogengeschäft der Cosa Nostra zu kümmern. Aber zugleich will er so auch seine Frau und seine jüngeren Kinder in Sicherheit bringen. Während seine engsten Freunde und älteren Söhne in der Heimat niedergemeuchelt werden, soll Buscetta schließlich von der brasilianischen Regierung an die italienischen Behörden übergeben werden. Nachdem das Vorhaben, die Auslieferung durch einen Selbstmordversuch zu verhindern, gescheitert ist, lässt sich Buscetta auf einen Kronzeugen-Deal mit dem Staatsanwalt Giovanni Falcone (Fausto Russo Alesi) ein. Es kommt zu einem der größten und spektakulärsten Prozesse in der italienischen Justizgeschichte ...
Trügerischer Friede: Noch sind Tommaso Buscetta (im weißen Anzug) und die anderen Mafia-Bosse die besten Freunde.
Man braucht die erste Hälfte, in der die Figuren und Namen nur so an einem vorbeirauschen, um später zu verstehen, warum sich Buscetta schließlich über das oberste Gesetz der Cosa Nostra hinwegsetzt und mit der Staatsanwaltschaft kooperiert. Zugleich sind die Reizpunkte in diesem zwar sauber inszenierten, aber eben auch arg bekannt anmutenden Abschnitt rar gesät. Bellocchio blendet etwa den in schwindelerregende Höhen schnellenden Bodycount des Zweiten Mafiakrieges unten links im Bild ein – mit umklappenden Zahlen, die an einen Kalender erinnern und so eine gewisse Unabwendbarkeit suggerieren. Es gibt auch eine abgefahrene Szene, in der die brasilianische Polizei Buscettas Ehefrau aus einem fliegenden Helikopter baumeln lässt, um ihn endlich zu einer Aussage zu zwingen. Aber insgesamt ist dieser Teil des Films – gerade für Bellocchio-Verhältnisse – erstaunlich brav geraten.
Das ändert sich allerdings mit Beginn der Maxi-Prozesse. Zwar wird die Inszenierung auch hier nicht plötzlich viel mutiger (mit Ausnahme der vermutlich am spektakulärsten inszenierten Autobombendetonation der Kinogeschichte). Dafür sind aber die Prozesse selbst in ihrer Dimension und in ihrem Ton derart absurd und entlarvend, dass schon ihre pflichtbewusste Nachstellung unbedingt sehenswert ist (vom sprunghaft ansteigenden Unterhaltungswert mal ganz zu schweigen). Zunächst spielen sich die im hinteren Teil des Gerichtssaals in käfigartigen Zellen untergebrachten Mafia-Mitglieder (es wurde aus Sicherheitsgründen extra ein Betonbunker in der Nähe des Gefängnisses errichtet) noch voller Selbstsicherheit auf und zünden sich sogar voller Verachtung gegenüber dem Gericht Zigarren an (aus „medizinischen Gründen“). Aber wenn ihnen dann langsam dämmert, dass die Aussagen von Buscetta tatsächlich für viele von ihnen das Ende bedeuten wird, hat das etwas Höchstbefriedigendes an sich.
Ebenfalls gelungen ist die widersprüchliche Zeichnung der Titelfigur. Obwohl der Film „Il Traditore“, also „Der Verräter“ heißt, ist Buscetta ein Stück weit der Held der Geschichte: ein Mafia-Boss der alten Schule, der seine Organisation selbst nicht mehr wiedererkennt, seit der Milliarden in die Kassen spülende Heroinhandel den früheren Ehrenkodex der Casa Nostra quasi ausradiert hat. Schließlich würden inzwischen selbst Neugeborene exekutiert, sowas hätte es früher nie gegeben. Aber so leicht lässt Bellocchio seinem Protagonisten das Bild des „Bekehrten“ nicht durchgehen, stattdessen streut er immer wieder auch Zweifel an den wahren Motiven des Kronzeugen. Der Höhepunkt ist die Einlassung eines Mafia-Anwalts, der Buscetta auf der Zielgeraden noch einmal nach allen Regeln der Kunst auseinandernimmt. Eine verheerende Darstellung, der Bellocchio mit seinem Film anschließend zumindest nicht direkt widerspricht. So bleibt dieser Buscetta, mit dem man sich über weite Strecken des Films durchaus (gerne) identifiziert, bis zum Ende eine ambivalente Figur und ein widerborstiger Held.
Fazit: Ein biographisches Mafia-Epos, das allerdings eine ganze Zeit braucht, um zu den wirklich spannenden Elementen seiner Erzählung vorzudringen.
Wir haben „Il Traditore - Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra“ beim Filmfestival in Cannes gesehen, wo er im offiziellen Wettbewerb gezeigt wurde.