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    Zwischen den Zeilen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Zwischen den Zeilen

    Vom Zerplatzen analoger Filterblasen

    Von Sascha Westphal

    „Autofiktion“. Der Begriff gefällt dem Schriftsteller Léonard Spiegel nicht. Und doch wird er ständig mit ihm konfrontiert, bei öffentlichen Lesungen ebenso wie in Radiointerviews. Innerlich scheint er dann regelrecht zusammenzuzucken. Denn für ihn gleicht dieser Terminus einem Angriff auf sein Schaffen und seine Person. Léonard Spiegel und sein Werk lassen sich nicht trennen, auch wenn er immer wieder betont, dass seine Bücher einfach nur Romane seien. Doch die Inspiration für diese Romane, die meist um Schriftsteller kreisen, die ein Leben wie er selbst führen, erwächst aus seinen privaten Erlebnissen und Erfahrungen, die er dann ein wenig übermalt und verfremdet. „Autofiktion“ eben.

    Aber das will Léonard Spiegel nicht hören. Womit wir wieder am Anfang wären. Solche Kreisbewegungen, aus denen es allem Anschein nach kein Entrinnen gibt, prägen Olivier Assayas’ „Zwischen den Zeilen“. Schon der Versuch, die Geschichte aus dem Verlagsmilieu einzuordnen, ihr einen wie auch immer gearteten Genrestempel aufzudrücken, ist zum Scheitern verurteilt. Assayas selbst hat seinen schillernden Film als Komödie angekündigt, aber vergessen Éric Rohmer („Claires Knie“, „Die Sammlerin“) als Paten zu benennen. Denn mit den heutzutage üblichen französischen Komödien hat „Zwischen den Zeilen“ etwa so viel gemein wie seine vorherige Arbeit „Personal Shopper“ mit durchschnittlichen Horrorfilmen aus Hollywood.

    Das Verhältnis zwischen Léonard Spiegel (Vincent Macaigne) und seinem langjährigen Verleger Alain Danielson (Guillaume Canet) ist ziemlich kompliziert. Zum einen sind Léonards Romane schon seit längerem nicht mehr sonderlich erfolgreich. Zum anderen hat der Schriftsteller eine Affäre mit Danielsons Ehefrau Selena (Juliette Binoche). Doch davon weiß der Verleger nichts. So kann Selena ihn durch einen geschickten Schachzug so weit manipulieren, dass er Léonards neuen Roman gegen seine Überzeugung doch noch herausbringt. Aber die Differenzen mit seinem Freund und seine Zweifel an dessen Werk sind für Alain letztlich sowieso nur ein Nebenschauplatz. Sein Denken kreist vornehmlich um die Zukunft des Verlages, den er leitet, und um die Auswirkungen der Digitalisierung, denen er mal optimistisch, mal pessimistisch gegenübersteht. Wie Léonard dreht auch er sich ständig im Kreis. Die Widersprüche in seinen Gedankengängen lassen sich nicht auflösen, auch nicht durch seine Affäre mit der jungen Laure d’Angerville (Christa Théret), einer Spezialistin für digitale Strategien, die den Verlag in die Zukunft führen soll…

    Léonard (Vincent Macaigne) hat eine Affäre mit Selena (Juliette Binoche), der Frau seines Verlegers.

    Es wird ständig über die Digitalisierung der Kunst und der Gesellschaft gestritten und philosophiert. Von der Macht der Blogger und der Zukunft des Schreibens in den Zeiten von Twitter ist die Rede. Laure denkt über die Veröffentlichung von Büchern in Form von Smartphone-Apps nach, und Alain zieht in Erwägung, nur noch eBooks herauszubringen. Aber all diese Überlegungen und Diskussionen haben nicht den geringsten Einfluss auf den Film an sich. Anders als noch in „Personal Shopper“ visualisiert Olivier Assayas den Vormarsch der digitalen Medien nicht. Es gibt keine SMS-Texte, die sich in die Bilder drängen, und auch keine anderen Spielereien. „Zwischen den Zeilen“ gibt sich als Oase des Analogen. Erinnerungen an Éric Rohmer und seine Filme drängen sich also auch in dieser Hinsicht auf. Assayas kehrt noch einmal zurück zu dieser seit der Nouvelle Vague typisch französischen Art des Filmemachens, bei der sich alles um die Menschen und ihr Sprechen dreht. Unsere heutige Wirklichkeit verschwindet zwischen den Zeilen und ist damit umso präsenter.

    Assayas scheint sich gegen den Strom der Zeit zu stemmen. Es fällt leicht, diese bewusste verquere, sich immer wieder querstellende Komödie als Bekenntnis eines Kulturpessimisten zu sehen. Dann wäre Assayas ein Bruder im Geiste Léonard Spiegels, der sich der digitalen Wirklichkeit einfach verweigert, der ignoriert, was im Netz über ihn geschrieben wird, und gar nicht daran denkt, sich dem Zeitgeist zu ergeben. Aber eine solche Lesart des Films geht in die Irre. Sie sieht die Traditionen, auf die sich Assayas beruft, aber verliert dessen ganz eigenen, absolut zeitgenössischen Zugriff aus den Augen. Natürlich wird ständig nur geredet, und das in einem Tempo, dass es schwierig wird, überhaupt mitzukommen. Und eben dieses Tempo ist das Entscheidende.

    Selena überredet ihren Verleger-Eheman (Guillaume Canet), das neue Buch von Léonard doch noch herauszubringen.

    Die Dynamik der Diskussionen, in denen das ständige Hin und Her von Argumenten und Gegenargumenten keinesfalls zu einer Hegelschen Synthese führt, korrespondiert dabei mit der Dynamik von Yorick Le Saux’ Kameraarbeit. Es gibt nichts, woran sich der Blick festhalten könnte. Immer wieder geraten die Bilder und mit ihnen die Konstellationen und die Gedanken in Bewegung. Die einzelnen Standpunkte der Figuren verschieben sich ständig. Eine Position löscht die andere aus, um sofort von der nächsten überlagert zu werden. Assayas erschafft ein analoges Internet der Ideen und der Haltungen, die unaufhörlich auf das Publikum einprasseln. Aber anders als in der digitalen Welt, in der Filterblasen zu Fluchtpunkten werden, zerplatzen in „Zwischen den Zeilen“ alle Blasen sofort wieder. So wagt Assayas das größte Experiment. Er trifft keine Entscheidungen. Alle haben Recht und zugleich auch Unrecht. Das auszuhalten, ist nicht einfach, aber befreiend.

    Fazit: Olivier Assayas schlägt mit seiner widerspenstigen Komödie über die amourösen und die intellektuellen Wirrungen in der Pariser Verlags- und Kulturszene einen Bogen von der Nouvelle Vague in die Gegenwart. Dabei gelingt ihm ein kleines Wunder. Ein durch und durch analoger Film weist einem einen Weg aus dem politischen und gedanklichen Dickicht der digitalen Welt.

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