Einem Menschenfresser auf der Spur
Von Michael Meyns„Ich werde der letzte Dichter der deutschen Sprache sein, das letzte Genie.“ So sprach Berthold Brecht schon mit Anfang 20 über sich selbst. Ohne jeden Zweifel an seinem Talent, an seiner zukünftigen Größe. Und hatte er nicht auch Recht? Gibt es im 20. Jahrhundert einen bedeutenderen deutschen Autor? Kaum Zweifel an Brechts Brillanz lässt auch Heinrich Breloer in seinem zweiteiligen, insgesamt gut drei Stunden langen TV-Doku-Drama „Brecht“, in dem Tom Schilling den jungen und Burghart Klaußner den älteren Brecht verkörpert. Wäre der Protagonist nur ein literarisches Genie gewesen, wäre diese penibel recherchierte Biografie womöglich etwas eintönig ausgefallen. Doch Breloer zeigt Interesse am „ganzen“ Brecht, also nicht nur an dem Autor, sondern auch an dem Menschenfresser, dem Egomanen und dem Frauenhelden, dessen Lebensdaten das Deutsche Kaiserreich, die Weimarer Republik, den Nationalsozialismus samt Zweiter Weltkrieg und die Frühphase der DDR umspannen.
Augsburg, 1917. Der 19 Jahre alte Bertold Brecht (Tom Schilling) ist ein angehender Dramatiker und vehementer Gegner des Ersten Weltkriegs. Aber noch sind seine Stücke eher Versuche, ebenso wie die Beziehung mit seiner ersten Liebe Paula Banholzer (Mala Emde), der viele weitere größere und kleinere Liebschaften folgen werden. Befeuert von seinem enormen Ego verschafft sich Brecht bald Anerkennung, wird durch die „Dreigroschenoper“ gar zum Weltstar. Er heiratet die Schauspielerin Helene Weigel (Lou Strenger) und muss unter den Nazis das Land verlassen. 1948 lebt Brecht (nun Burghart Klaußner) in New York im Exil, wo er als Kommunist beschimpft wird. Er kehrt nach Berlin zurück, wo er zunächst am Deutschen Theater, dann am Theater am Schiffbauer Damm ein sozialistisches Ensemble aufbauen will, das die Werte des sozialistischen Staates auf künstlerische Weise umsetzen soll. Doch wie sehr macht sich Brecht damit zum Spielball eines Systems, das spätestens nach dem DDR-Volksaufstand Mitte der 1950er Jahre zunehmend repressiv gegenüber dem eigenen Volk agiert?
„Brecht“ ist ein typischer Breloer! Das bedeutet: hervorragend recherchiert, enorm reich an Daten, Zitaten und Informationen, mit einem großartigen Ensemble besetzt, bisweilen aber auch ein bisschen trocken. Mit dem TV-Doku-Thriller „Todesspiel“ über den Deutschen Herbst landete Breloer 1997 seinen ersten Riesenhit, in dem er bereits auf seine Markenzeichen-Mixtur aus historischem Dokumentarmaterial, Interviews mit Zeitzeugen sowie nachgestellten Szenen setzte. In „Speer und Er“ beschäftigte er sich in der Folge mit Hitler und seinem Lieblingsarchitekten sowie in „Die Manns – Ein Jahrhundertroman“ mit den Gebrüdern Mann. So nah an die Gegenwart wie beim „Todesspiel“ wagte er sich jedoch nie wieder, was natürlich auch Auswirkungen auf die Verfügbarkeit von Archivmaterial und vor allem noch lebenden Zeitzeugen hat.
Dieses Problem ergibt sich speziell auch beim ersten Teil von „Brecht“, der deshalb nun fast wie ein konventioneller Spielfilm daherkommt. Brechts Aufstieg wird vor allem in Spielszenen gezeigt, die nur sporadisch von einigen Aufnahmen des Münchens der Zwanzigerjahre sowie offenbar in den 1960ern entstandenen Interviews mit Paula Banholzer ergänzt werden. Teil 2 ist dann ganz anders: In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war Brecht bereits eine Legende, dementsprechend viel Material ist verfügbar, auch mit etlichen Arbeitskollegen, Regieassistenten oder Geliebten konnte Breloer noch Interviews führen, die einen sehr viel dokumentarischeren Eindruck vermitteln.
Im ersten Teil ist es besonders Tom Schilling („Werk ohne Autor“), der einmal mehr den jungen, wilden, liebestrunkenen Künstler gibt und Brecht zu einer schillernden Gestalt werden lässt, die trotz aller fragwürdigen moralischen Entscheidungen fasziniert. „Menschenfresser“ nennt ihn hier schon sein Mentor Lion Feuchtwanger. Ein Urteil, das sich durch den Film wie durch Brechts Leben zieht. Und doch: So viel Scherben Brecht durch seine zahllosen, oft willkürlich anmutenden Affären auch hinterlassen hat, so viel er seinen künstlerischen Mitstreitern durch seinen Perfektionismus auch abverlangte: Am Ende bleibt seine Kunst. „Er nahm in Anspruch, aber er hat auch enorm viel gegeben.“, sagt ein Kollege am Ende, ein Fazit, dem man sich nach den enorm dichten, manchmal lehrstückhaften, aber immer informativen 180 Minuten von „Brecht“ gerne anschließen mag.
Fazit: In seiner typischen Manier nähert sich Heinrich Breloer mit einer Mischung aus Spielszenen, Archivaufnahmen und Interviews dem Phänomen „Brecht“ und stößt dabei auf einen ebenso genialen wie egozentrischen Jahrhundertkünstler.
Wir haben „Brecht“ im Rahmen der Berlinale 2019 gesehen, wo er in der Sektion Berlinale Special gezeigt wurde.