Ein Mietshaus als (gar nicht schmeichelhafte) Gesellschafts-Miniatur
Von Ulf LepelmeierIn der Psychologie wird der Begriff der Black Box dafür verwendet, dass sich Gedanken und Emotionen nicht einfach so messen lassen – stattdessen sind es nur die Reaktionen auf einen bestimmten Reiz, die ausgewertet werden können. „Auf einmal“-Regisseurin Aslı Özge konzentriert sich in ihrem Ensembledrama „Black Box“ ganz auf die Bewohner*innen eines alten Mietsgebäudes in Berlin und lässt das Publikum – wie bei einem präzise durchgeführten wissenschaftlichen Versuch – an ihren Beobachtungen eines besonders extremen Tages teilhaben: Das Gebäude wird nämlich mit einmal von der Polizei komplett abgeriegelt – und mutiert so zur dampfkochtopfartigen Miniatur einer von gegenseitigem Misstrauen geprägten Gesellschaft.
Ein Bürocontainer wird mit einem Kran in den Innenhof gewuchtet. Hausverwalter Johannes Horn (Felix Kramer) soll hier seinen Arbeitsplatz direkt vor Ort beziehen, wird aber erst einmal mit einem Ei beworfen: Die Mieter*innen reagieren mit Argwohn auf die geplante Sanierung! Der streitsüchtige Lehrer Erik (Christian Berkel) startet unterdessen mit dem befreundeten Nachbarspaar Karsten (André Szymanski) und Karin (Anna Brüggemann) eine Unterschriftenaktion gegen den neuen Standort der Mülltonnen. Doch dann sind eines morgens alle Eingänge des Gebäudes plötzlich – und ohne offensichtlichen Grund – von der Polizei versperrt: Gerade an diesem Tag hat Henrike (Luise Heyer) nach langer Zeit endlich mal wieder ein Bewerbungsgespräch. Doch die Polizei lässt niemanden raus und die Verdächtigungen innerhalb der abgeschotteten Gemeinschaft nehmen immer mehr zu…
Plötzlich macht die Polizei einfach alles dicht – und keiner weiß so genau,w warum!
Was mit einem kleingeistig erscheinenden Streit über den Standpunkt der Mülltonnen beginnt, weitete sich im räumlich auf einen Innenhof, einige Wohnungen sowie eine Bäckerei beschränkten Film von Aslı Özge zu einer Bestandsaufnahme unserer Gesellschaft im Hier und Jetzt aus: Dabei beobachtet die Regisseurin sehr genau, wie die Macht- und Ohnmacht-Mechanismen der Bewohner*innen untereinander greifen, wie alle letztlich ihre eigenen Agenden verfolgen und sich gegenseitig ausspielen. Gerade der Konkurrenzkampf um die Wohnungen und die Angst um das mögliche Ende des Mietverhältnisses spielen hierbei eine zentrale Rolle. Özge nutzt die Menge an Figuren in einem klar abgesteckten Raum geschickt und ohne zu didaktisch zu werden, um vom Infragestellen von gesellschaftlichen und demokratischen Strukturen sowie dem erschreckend schnellen Zerbröckeln eines Gemeinschaftssinns zu erzählen.
Die persönlichen Hintergründe und Geschichten der verschiedenen Einwohner*innen klingen immer nur grob an. Nie kommt der Film einer Figur zu nahe oder probiert diese komplett zu durchleuchten. Stattdessen versetzt „Black Box“ sein Publikum vielmehr in die beobachtende Position einer mit-mietenden Partei, die bei einem Gespräch auf dem Innenhof wie zufällig dabeisteht, dann in der Bäckerei ein neues Gerücht aufschnappt und schließlich wieder mit an der von der von der Polizei verbarrikadierten Einfahrt nach neuen Infos zur Situation oder zur Dauer der Freiheitseinschränkung lechzt. Özges Stamm-Kameramann Emre Erkmen folgt den Figuren stehts fließend durch die Treppenhäuser in die einzelnen Wohnungen, die jeweils vieles über ihre Bewohner*innen Preis geben. Auch kurze Blicke in die Fenster der Nachbar*innen werden zugelassen. Das gegenseitige Beobachten und Beschatten war auch vorher schon an der Tagesordnung, wird aber durch den Aufruf der Hausverwaltung, ungewöhnliche Vorkommnisse sofort zu melden, noch weiter befeuert.
Henrike (Luise Heyer) hat endlich die Chance auf einen Job – und genau da riegelt die Polizei das Haus hermetisch ab!
Am ehesten taugt noch die von „Das schönste Paar“-Star Luise Heyer gespielte Henrike als Identifikationsfigur innerhalb des Ensembles: Sie möchte sich zu Beginn lieber aus allem raushalten und sich auf ihr Bewerbungsgespräch und die etwas schwierige Beziehung mit ihrem Mann Daniel (Sacha Alexander Gersak) konzentrieren, wird ihre neutrale Position aber auch nicht bis zum Ende durchhalten können. Die Figuren sind zwar nicht alle klischeefrei, bleiben aber größtenteils ambivalent. Ganz bewusst wird dabei von der Regisseurin mit Andeutungen gespielt, um auch im Kopf der Zuschauenden Verdachtsmomente und Vorwürfe aufflackern zu lassen, die sich dann verdichten oder wieder relativieren.
Vieles wird gekonnt in einem Schwebezustand belassen, der sowohl Spannung als auch Verunsicherung beim Publikum auslöst. Während vom Verwalter floskelhaft immer wieder betont wird, dass alles okay sein und alles Erforderliche getan werde, werden schon die nächsten Sicherheitsmaßnahmen angekündigt und umgesetzt – von der Kameraüberwachung über einen Anti-Auto-Poller bis hin zum Stacheldraht. Nur die Frage, um welche Art von Krisensituation (Terror, Pandemie, Gentrifizierung etc.) es sich denn hier eigentlich wirklich handelt, bleibt weiter unbeantwortet im Raume stehen…
Fazit: Gerade in einer Situation der Verunsicherung wünscht man sich eine Besinnung auf gegenseitige Solidarität - doch Angst gebiert zumeist eher das Gegenteil. Schmerzhaft klar in ihren Beobachtungen hält Regisseurin Aslı Özge mit ihrem Ensembledrama „Black Box“ unserer Gesellschaft einen Spiegel vor.
Wir haben „Black Box“ beim Filmfest München 2023 gesehen, wo er die Reihe Neues Deutsches Kino eröffnet hat.