„All das, was wir anfassen können, ist nicht von Dauer (...) Wie mein Meister schon gesagt hat: Wenn man die Hand fest schließt, besitzt man überhaupt nichts, wenn man die Hand weit öffnet, besitzt man die ganze Welt (...) In unserer Welt des Kampfes gibt es lauernde Tiger und verborgene Drachen.“ (Li Mu Bai)
Was wären Filme ohne die immer wiederkehrenden Themen wie „Gut” und „Böse”, Anpassung und Rebellion, Treue und Verrat, Liebe und Hass, Stolz und Eitelkeit, Ehre und Intrige, Gesetzestreue und Gesetzlosigkeit, Alt und Jung, und die Konflikte, die aus dem Spannungsfeld dieser Gegensätze entstehen? Das Kino schreibt diese Themen immer wieder erneut in unser Gedächtnis, mal mehr schlecht, mal mehr recht und mal so exzellent und visuell überzeugend wie in diesem chinesischen Film des Meisterregisseurs Ang Lee. Auf Basis des Romans von Du Lu Wang inszenierte Ang Lee 2000 in einer Koproduktion das, was man gewöhnlich einen Martial-Art-Film nennt, einen Film, in dem ostasiatische Kampftechniken die Hauptrolle spielen. Doch Ang Lee wäre nicht Ang Lee, wenn diese Techniken im Vordergrund des Films stehen würden.
Ang Lee erzählt eine wunderbare, tragische und doch zugleich liebevolle Geschichte, in der die Kampftechniken nur eines sind: Ausdruck des Charakters der Handelnden im feudalen China, nicht Selbstzweck.
Der ehrenwerte Schwertkämpfer Li Mu Bai (Chow Yun-Fat), dessen Meister von der gesetzlosen Kämpferin Jade Fuchs (Cheng Pei-pei) vergiftet worden ist, ist des Kampfes müde. Er glaubt, sich künftig aus allen Konflikten heraushalten zu können, und übergibt in Beijing sein 400 Jahre altes Schwert „Grünes Schicksal” seiner Kampfgefährtin Yu Shu Lien (Michelle Yeoh), die es dem Gouverneur Yu (Li Fa Zeng) schenken soll. Doch der Hohe Rat Sir Te (Lung Sihung), den Yu Shu Lien zunächst kontaktiert, will das Schwert nur zur sicheren Aufbewahrung entgegennehmen. Er weiß um die Bedeutung des Schwerts und um die Bedeutung Li Mu Bais.
Insgeheim hofft Li Mu Bai, endlich in Frieden mit Yu Shu Lien leben zu können. Beide verbindet eine jahrelange, aber gegenseitig unausgesprochene tiefe Liebe.
Die Ereignisse der Vergangenheit jedoch holen beide rasch ein. Ein unbekannter Kämpfer stiehlt das berühmte Schwert. Wie sich bald herausstellt, handelt es sich um die Tochter des Gouverneurs, die junge Jen Yu (Ziyi Zhang), die keine große Lust verspürt, den von ihren Eltern ausgesuchten Mann aus gutem Hause zu ehelichen. Als der Polizeiinspektor Tsai (Wang De Ming) Li Mu Bai erzählt, er sei nach Beijing gekommen, um Jade Fuchs zu suchen und einzusperren, der seine Frau getötet habe, und er vermute die gesetzlose Kämpferin im Hause des Gouverneurs, können sich Li Mu Bai und Yu Shu Lien nicht mehr neutral verhalten. Jade Fuchs wurde von der Frau des Gouverneurs (Hai Yan) angestellt, um die Tochter Jen Yu auszubilden und zu erziehen. Jade Fuchs will verhindern, dass Jen Yu heiratet, und vor allem will sie, dass Jen Yu zu einer ebensolchen gesetzlosen Kämpferin wird wie sie selbst.
Nachdem Tsai bei einem Kampf mit Jade Fuchs in Anwesenheit seiner Tochter (Li Li-Li), der vermummten Jen Yu und von Li Mu Bai von der Gesetzlosen getötet wird, greift Lu Shu Lien zu einer List, um Jen Yu wissen zu lassen, dass sie sie und Jade Fuchs durchschaut hat. Und Li Mu Bai setzt alles daran, Jen Yu von Jade Fuchs zu trennen und letztere im Kampf zu besiegen ...
Ang Lee erzählt eine Geschichte aus dem alten China, und doch ist diese Geschichte so modern, ja so weltoffen (und wird wohl in jedem Winkel dieser Erde verstanden), dass kulturelle Eigenheit und Universalität eins zu werden scheinen. „Tiger & Dragon” ist aber dennoch nicht etwa ein in Dialogen und Bildern aufdringlicher Lehrfilm. Kein Zeigefinger, nicht einmal leichte Fingerzeige müssen dafür herhalten, von etwas zu verkünden oder Moral zu predigen. Im Gegenteil.
Die erzählerische Geschlossenheit, die eher sparsamen Dialoge, die ebenso gezielt und nicht inflationär eingesetzten exzellenten Kampfszenen, die visuelle Vielfalt, der herausragende Einsatz der v.a. von Dun Tan komponierten Musik, die fein gezeichneten Charaktere – all das macht „Tiger & Dragon” zu einem homogenen Ganzen, zu einer epischen Komposition, die ihresgleichen sucht.
Dabei verbinden sich ganz unterschiedliche Erzählformen – wie Märchen, Legende, Mythos und moderne Großstadterzählung (Generationenkonflikt und Familiengeschichte) – zu einer Art visuellem Gesamtkunstwerk, das immer wieder begeistern kann. Die Unaufdringlichkeit, ja geradezu in jeder Hinsicht einleuchtende Schilderung der verschiedenen Konflikte und ungelösten Probleme bezieht ganz unterschiedliche „Subtexte” zu einem großen „Text”, in den die Personen alle verwoben sind. Schicksal wird so aus einem unnahbaren, abstrakten Unerklärlichen zu einem logisch verknüpften Ganzen, dessen Überzeugungskraft in jeder Szene des Films gegeben ist.
Li Mu Bai, Typus des ehrbaren Kämpfers, ist kampfesmüde geworden. Er, der den Frieden will und sich darüber Illusionen macht, alten Konflikten zu entkommen, kann seine Liebe Yu Shu Lien nicht gestehen. Yu Shu Lien andererseits ist ebenso gefangen in Tradition und Herkunft, die es ihr verbieten, sich Li Mu Bai zu nähern. Ihnen gegenüber steht eine junge Frau aus herrschaftlichem Haus, die eben nur aufgrund dieser Herkunft aus dem Umkreis der Macht einen rebellischen Geist entwickeln kann, der sich zunächst aus nichts anderem zu speisen scheint als wilder Lebenslust. Gerade diese Unüberlegtheit in Jen Yus rebellischer Natur treibt sie in die Arme der verbitterten, rachsüchtigen, gesetzlosen und bösartigen Jade Fuchs, die aus enttäuschter Liebe den Meister Li Mu Bais vergiftet hatte. Während die Eltern Jen Yus, der Gouverneur und seine Frau, nur Interesse an ihrer Tochter in bezug auf machtpolitische Überlegungen zeigen (sie wollen sie mit dem Sohn einer reichen Familie verheiraten), entwickelt sich in Li Mu Bai und Yu Shu Lien eine Art Ersatz-Elternpaar, das die junge Frau langsam, durch Überzeugungskraft, aber auch durch Entschlossenheit dem Einfluss von Jade Fuchs zu entziehen versucht.
Noch ein Gegensatzpaar zeigt der Film. Während Jade Fuchs den Typ der bösartigen Gesetzlosen verkörpert, die nur an ihr eigenes Fortkommen denkt, tritt in das Leben Jen Yus ein anderer Typ von Gesetzlosem, der Bandit Lo, genannt Schwarze Wolke (Chang Chen), der sich in die aufmüpfige junge Frau verliebt und bereit ist, für diese Liebe alles zu opfern.
Die innere Ruhe, mit der alle Schauspieler, selbst Ziyi Zhang als rebellische Jen Yu, ihre Rollen verkörpern, gibt dem Film eine Kraft, die kaum jemanden kalt lassen kann. Dies gilt besonders in bezug auf die Rollen von Michelle Yeoh und Chow Yun-Fat.
Die Kampfszenen, die eigentlich eher Manifestationen der Charaktere und einer wichtigen Form ihrer Konfliktbewältigung darstellen, überzeugen vor allem durch den körperlichen Einsatz der Schauspieler, die exzellente Effekttechnik (die computeranimiert vorbereitet wurde), und die Bewegungen der Mimen in der Schwerelosigkeit, die so echt wirken, dass einem schwindlig werden könnte. Einstudiert wurden diese Szenen durch Yuen Wo-Ping, der auch für die entsprechende Choreographie in „Matrix” verantwortlich zeichnete. Unterstützt werden diese Szenen beispielsweise durch Trommelwirbel, die Musik Dun Tans, die diesen Teilen des Films einen Ballett-ähnlichen Ausdruck verleihen. Besonders beeindruckend sind etwa Szenen, in denen die Schauspieler scheinbar schwerelos an Mauern und über Bäume hinweg schweben und kämpfen.
Der u.a. in Beijing, einem Bambuswald in Jiangsu, in der Provinz Anhui und in der Gobi-Wüste gedrehte Film überzeugt schließlich durch eine außergewöhnlich mitreissende Verbindung zwischen Handlung und Ort, dem Handeln der Charaktere und den Landschaften, in denen sie sich bewegen. Natur und Kultur erscheinen ebenfalls als Einheit von Gegensätzen. Auch hier setzte Ang Lee auf dramaturgische Homogenität – zum Besten des Films.