Wenn man an ein Biopic über die legendäre schwedische Kinderbuchautorin und „Pipi Langstrumpf“-Erfinderin Astrid Lindgren denkt, dann stellt man sich wahrscheinlich einen netten, beschwingten, vielleicht ein wenig schelmischen Wohlfühlfilm vor. Das ist Pernille Fischer Christensens Verfilmung von Astrid Lindgrens Lebensgeschichte aber ganz und gar nicht geworden. Lediglich zu Beginn erfüllt „Astrid“ diese Erwartung, wandelt sich dann aber schnell zu einem hochemotionalen Drama, das zeigt, wie Lindgren zu dieser fantasieüberbordenden Autorin werden konnte, ohne dass wir sie auf der Leinwand auch nur ein einziges Mal tatsächlich als Kinderbuchschreiberin in Aktion sehen. Erst ihre schwierigen Erfahrungen auf der Schwelle zum Erwachsenwerden ermöglichen ihre Entwicklung zu einer Autorin der Ausnahmeklasse. Und so entpuppt sich Fischer Christensens Biopic als ein zwar konventionell erzähltes, aber mitreißend gespieltes Melodram, bei dem einen das Leiden der Figuren zutiefst berührt.
Astrid (Alba August) wächst in einer streng religiösen Familie im ländlichen Schweden in Vimmerby auf, wo sie schon seit jeher aus der Schar der vier Kinder von Samuel (Markus Krepper) und Hanna Ericsson (Maria Bonnevie) heraussticht. Sie ist forsch, intelligent und neugierig aufs Leben. Das verschafft ihr einen Job als Volontärin beim kleinen Lokalblatt Vimmerby Times. Der Chefredakteur, Herausgeber und einzige Mitarbeiter Reinhold Blomberg (Henrik Rafaelsen) erkennt sofort Astrids riesiges Talent und Potenzial. Der verheiratete, aber getrennt lebende Familienvater verliebt sich in die 18-Jährige – ein Gefühl, das auf Gegenseitigkeit beruht. Astrid wird ungewollt schwanger, was im Jahr 1926 riesige Probleme bedeutet. Sie verlässt Vimmerby, um das uneheliche Kind in Dänemark zu bekommen, unbemerkt von der Gesellschaft in der Heimat. Ihr Sohn Lasse (Isak Lydik Radion) wächst in der Folge bei seiner dänischen Pflegemutter Marie (Trine Dyrholm) in Kopenhagen auf. Zuhause droht Reinhold unterdessen Gefängnis wegen Ehebruchs. Trotzdem wollen Astrid und er noch immer heiraten, sobald seine Scheidung endlich rechtskräftig ist…
Sie ist die berühmteste Kinderbuchautorin, die jemals gelebt hat. Astrid Lindgren (1907 bis 2002) schrieb in ihrer Karriere Weltklassiker wie „Pippi Langstrumpf“, „Michel aus Lönneberga“ „Kalle Blomquist“ oder „Ronja Räubertochter“ und verkaufte mehr als 160 Millionen (!) Exemplare ihrer zeitlosen Werke, mit denen seitdem immer wieder neue Generationen von Kindern aufwachsen. Es ist das vielleicht größte Kompliment, das man Filmemacherin Pernille Fischer Christensen („Someone You Love“, „Eine Familie“) machen kann: Wen man „Astrid“ schaut, bekommt man tatsächlich eine gute Ahnung davon, wie Astrid Lindgren später in der Lage war, so viele Millionen große und kleine Kinder mit ihrer Vorstellungskraft zu begeistern. Auch wenn sie viele Hindernisse überwinden musste und wahrlich nicht aus einem für das Schreiben prädestinierten Haushalt kam, hat sie sich ihren Lebenshunger, ihre Unabhängigkeit und ihre Warmherzigkeit auch in verzweifelter Lage nie nehmen lassen – und das gilt auch für viele Situationen, in denen viele andere wohl regelrecht zerbrochen wären.
Lindgrens Leidensgeschichte, die Regisseurin Fischer Christensen so schonungslos ausbreitet, ist hier auch deshalb so besonders effektiv, weil Alba August („Die Erbschaft“, „Countdown Copenhagen“) als Astrid eine herausragend-einnehmende Performance abliefert und das Publikum regelrecht mitreißt. Und trotz all der Tristesse ist „Astrid“ nie ohne Hoffnung. Es gibt immer wieder kleine Momente des Lichts, wenn sich zum Beispiel Astrids späterer Vorgesetzter Sture Lindgren (Björn Gustafsson) als herzensguter Mensch herausstellt, der ihr in höchster Not den Glauben an das Gute zurückgibt, während ihr Kind krank und sie mit den Kräften und Nerven am Ende ist. Sie ist eine starke, selbstbewusste Frau, die niemals aufgibt. Aber selbst das muss sie lernen.
Auf der dramaturgischen Ebene bietet die Regisseurin überwiegend Konventionelles, ein klassisches Biopic eben. Fischer Christensen fängt bei der Astrid im Alter von 16 Jahren an und arbeitet sich dann rund eine halbe Dekade voran, umrahmt von einer erzählerischen Klammer, in der die rund 90-jährige Astrid schwärmerische Geburtstagswünsche und -bilder von Kindern empfängt (ohne dass ihr Gesicht von vorne gezeigt wird). Vielleicht hätte man sich von Fischer Christensen noch etwas mehr erzählerischen Mut wünschen können, aber „Astrid“ funktioniert auch so ganz hervorragend, als oft sehr bitteres, aber immer auch hoffnungsvolles Charakterporträt. Nicht nur trägt das Ensemble mit großer Spielfreude die Handlung, der Film ist darüber hinaus auch superb ausgestattet und stimmungsvoll authentisch gefilmt. Und der emotionale Punch beim herzzerreißenden Finale haut den Zuschauer regelrecht um.
Fazit: Pernille Fischer Christensens „Astrid“ ist ein starkes Künstlerinnen-Biopic, das einen zutiefst berührt und uns die „Pippi Langstrumpf“-Schöpferin zudem mit völlig neuen Augen sehen lässt.
Wir haben „Astrid“ bei der Berlinale 2018 gesehen, wo der Film in der Sektion Berlinale Special Gala gezeigt wird.