Disney+ würde sowas wohl (leider) nie zeigen
Von Christoph PetersenWenige Wochen nach dem Deutschlandstart von Disney+, wo der Po von Daryl Hannah selbst mit 35-jähriger Verspätung noch mit Hilfe von Computereffekten verhüllt wird, um einer dann doch ziemlich spießigen Vorstellung von „Familientauglichkeit“ gerecht zu werden, haut Netflix jetzt einen Animations-Spaß raus, der den Programmverantwortlichen der Mäusehaus-Konkurrenz vermutlich schlaflose Nächte bescheren würde: Mit „Familie Willoughby“ bleibt „Wolkig mit Aussicht auf Fleischbällchen 2“-Regisseur Kris Pearn seiner subversiven Ader treu – und auch Fans des trockenen Humors von Produzent und Erzähler Ricky Gervais („After Life“) kommen bei der Geschichte um vier Geschwister, die unbedingt zu Waisenkindern werden wollen, voll auf ihre Kosten.
Die Willoughby-Geschwister sehen aus, als könnten sie keiner Fliege was zuleide tun...
Nach seiner Geburt wird Tim Willoughby (Stimme im Original: Will Forte) von seinem Vater (Martin Short) direkt unsanft vor der Zimmertür ausgesetzt – schließlich hätte das Baby mit dem unsanften Geburtsvorgang seine Mutter (Jane Krakowski) beleidigt. Auch Tims jüngere Schwester Jane (Alessia Cara) und die Zwillinge Barnaby und Barnaby (beide: Seán Cullen) werden von den Eltern nicht besser behandelt – es gibt keine Liebe und auch nur sehr selten was zu Essen.
Aber dann kommt den erfindungsreichen Geschwistern die rettende Idee: Sie müssen zu Waisenkindern werden! Statt ganz einfach mit einem Fleischerbeil oder einer Motorsäge wollen sich die Willoughby-Kinder ihrer Erzeuger mit Hilfe eines ausgefeilten Plans entledigen: Sie schicken Mutter und Vater auf eine Weltreise an die gefährlichsten Orte der Welt. Und wenn sie nicht von einem Vulkan mit Lava übergossen werden, dann wird sie doch wohl hoffentlich zumindest ein wilder Bär zerfleischen…
„Mögt ihr Geschichten von Familien, die zusammenhalten und gemeinsam durch dick und dünn gehen und bis an ihr Lebensende glücklich sind… dann ist dieser Filme nichts für euch, ok?“ Ricky Gervais erzählt die Geschichte aus der Perspektive einer abgeklärten Straßenkatze und ein wenig erinnern seine zwischendurch immer wieder staubtrocken servierten Kommentare dabei durchaus an seine legendären Golden-Globe-Moderationen – minus die ganz krassen Anzüglichkeiten natürlich, schließlich handelt es sich auch bei diesem Anti-Familienfilm immer noch um einen Film für die ganze Familie.
Die 2008 veröffentlichte Buchvorlage, die hierzulande erst mit reichlich Verspätung im vergangenen Jahr unter dem Titel „Die schreckliche Geschichte der abscheulichen Familie Willoughby“ erschienen ist, stammt von der bereits 1937 geborenen Jugendbuchautorin Lois Lowry – und die ist schließlich berüchtigt dafür, in ihren Werken nie vor komplexen oder provokanten Themen zurückzuschrecken. Immer wieder werden Lowrys Bücher mit denen von Roald Dahl verglichen – und das passt ja auch: Der Humor ist teilweise wirklich pechschwarz – da werden keine Gefangenen gemacht, selbst wenn am Ende das Herz doch am rechten Fleck getragen wird.
Vater Willoughby ist ein ganz exquisiter Animationsfilm-Bösewicht.
Besonders gelungen ist dabei in diesem Fall die Zeichnung der namenlos bleibenden Eltern – die grotesk-überspitzte Darstellung der Vernachlässigung wird durch das sexuelle Innuendo ihres Strick-Fetisches sogar noch übertroffen. Einfach köstlich – so viel Spaß hat das inbrünstige Verabscheuen zweier Animationsfiguren schon ewig nicht mehr gemacht! Der Plan, zu Waisen zu werden, ist dabei allerdings ein eher loser Faden – zudem muss auch noch ein Waisenbaby gerettet, das Familienanwesen vor dem Verkauf bewahrt und die neue Nanny (Maya Rudolph) mit dem Süßwarenfabrikanten Commander Melanoff (Terry Crews) verkuppelt werden. Spätestens nach der ersten Stunde fühlt sich „Familie Willoughby“ ein wenig so an, als würde man sich da gerade mehrere Folgen einer Fernsehserie am Stück ansehen.
Diese Episodenhaftigkeit nimmt dem Film durchaus etwas von seinem Drive – und auch von seinem satirischen Biss. Aber dann kann man sich ja auch einfach solange an den wunderbar unkonventionellen Animationen erfreuen: „Familie Willoughby“ stammt zwar aus dem Computer – der Look erinnert aber trotzdem stark an Stop-Motion-Filme mit Figuren aus Knetmasse und Wolle. Ein Klischee gibt es dann aber doch – nämlich ganz viele Regenbogen, selbst wenn die manchmal auch von einem Baby stammen, dass nach dem Plündern einer Bonbonfabrik im regenbogenfarbenen Strahl losreihert.
Fazit: Netflix macht einen auf Anti-Disney! „Familie Willoughby“ ist ein etwas anderer Familien-Animationsfilm, der die gängigen Genre-Konventionen verspielt unterwandert, selbst wenn er erzählerisch zwischendrin ein wenig ins Stottern gerät.