Mehr Trigger-Warnungen gibt es sonst nirgendwo!
Von Lucas BarwenczikSeine zahlreichen Trigger-Warnungen präsentiert „Assassination Nation“ von Sam Levinson („Another Happy Day“) gleich zu Beginn so stolz, als wären es Medaillen oder Pokale. Große blau-weiß-rote Lettern kündigen Gewalt, Homophobie, Kraftausdrücke, Nationalismus, Folter, Transphobie, Vergewaltigung und noch vieles, vieles mehr an. Doch die anschließende Thriller-Groteske ist bei weitem nicht so provokant, wie es der anfängliche Trigger-Warnung-Marathon vermuten ließe. Es handelt sich lediglich um eine der vielen Posen, die der Film über seine Laufzeit hinweg annimmt. „Assassination Nation“ schlüpft in immer neue Kostüme, aber keines davon passt so richtig.
Erzählt wird die Geschichte von vier Freundinnen, die zusammen die Highschool besuchen. Lily Colson (Odessa Young), Bex (Hari Nef), Em (Abra) und Sarah (Suki Waterhouse) interessieren sich mehr für Partys und gutaussehende Klassenkameraden als für den Unterricht. Eines Tages tauchen Bilder des homophoben Bürgermeisters in Frauenunterwäsche im Internet auf. Es soll nur die erste von vielen Enthüllungen sein – ein anonymer Hacker veröffentlicht die Daten von der Hälfte der Schüler. Diese erzwungene Offenheit lässt die Stadt innerhalb von wenigen Tagen in Chaos und Gewalt versinken. Auch Lily und Co. haben Geheimnisse, die das Feuer und den Hass der gesamten Gemeinde schließlich auf sie lenken…
Der Regisseur und Drehbuchautor Sam Levinson drängt hier so nah an den Zeitgeist heran, wie es ihm nur irgendwie möglich ist. Sein Film soll ganz und gar im Hier und Heute spielen. Er entwirft eine Welt aus Tumblr, Instagram, Twitter, 4chan, russischen Hackern und Fanfiction. Seine internetaffinen Figuren handeln „for the lolz“, sind „savage“ und fühlen sich „#blessed. Lit af, fam.“.
Die sich immer schneller verändernde Jugendkultur zu erfassen, war für das Kino nie so schwer wie heute. In dem Zeitraum, in dem ein Spielfilm geschrieben, produziert und gedreht wird, haben sich Memes und Sprachcodes oft schon mehrfach weiterentwickelt. Manchmal ist ein Film damit schon bei seinem Erscheinen überholt. Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern. Der Film wirkt in schwächeren Momenten als hätte man einen „Jugendwort des Jahres“-Wettbewerb adaptiert. Auch bei größtem Einfühlungsvermögen wird immer ein wenig Spekulation bleiben, wenn ein Regisseur mit Mitte Dreißig aus dem Leben von Teenagern erzählt. Das Ergebnis ist oft ein wenig albern, ohne dass das sofort als Satire durchgehen würde.
Eine überzeugende Form für seine angebliche Jugendlichkeit findet der Film nicht. Die Schnittfrequenz ist halbwegs flott und gelegentlich gibt es ein paar Split-Screen-Bilder. Der Pop- und Trap-Soundtrack lässt kräftige Bässe pumpen. Rasant und dynamisch ist der Film dadurch trotzdem nicht. Gerade seine erste Hälfte wird von trägen, überlangen Musik- und Partymontagen bestimmt, die wie Füllmaterial wirken. Auch für die digitale Welt der Hacker und sozialen Medien findet der Film keine überzeugende Sprache. Wenn verdeutlicht werden soll, dass gerade ein Bildschirm gezeigt wird, sind die Aufnahmen so verpixelt als wäre es noch 1997. Nie wird klar, wie umfassend die Grenze zwischen On- und Offlinewelt aufgehoben ist. Es bleiben zwei klar getrennte Bereiche. Dadurch geraten auch alle Versuche, Aussagen über Privatsphäre und Datenschutz zu treffen, wenig glaubwürdig.
In der zweiten Hälfte geht das Teenager-Drama schnell in einen klassischen Genre-Film über. Nur wenige Tage nach dem großen Leak ist die Stadt komplett im „Purge“-Modus, maskierte Gewalttäter inklusive. Das Ganze fühlt sich dramaturgisch überstürzt an, gänzlich nachvollziehbar wird diese Entwicklung nicht. Eine Texttafel mit der Aufschrift „Eine Woche später“ ersetzt den tatsächlichen Prozess des Ins-Chaos-Stürzens nur unzureichend.
Ganz amerikanisch-prüde wird die Gewalt expliziter gezeigt als die verschüchtert angedeutete Sexualität. Es fließt ausreichend Kunstblut. Wirklich Spaß machen die Feuergefechte und Prügeleien leider selten, dafür geraten sie zu grimmig. Es fehlt an Wildheit und Einfallsreichtum. Statt B-Film-Spaß zu bieten, verstört „Assassination Nation“ eher. Das muss nicht schlecht sein, will aber nicht ganz zur Grundstimmung passen.
Ähnlich wie in der „Purge“-Reihe wird auch das gegenwärtige Unbehagen mit der politischen Lage in den USA aufgegriffen. Die Schurken des Films kleiden sich in amerikanische Sternenbanner. Natürlich ist es kein Zufall, dass der Film in der für ihre Hexenprozesse bekannten Stadt Salem in Massachusetts spielt. Die ordentliche Stadt reist mental ins Jahr 1692 zurück. Lily wird gejagt, weil sie ihrem älteren, verheirateten Nachbarn Nick (Joel McHale) aufreizende Bilder geschickt hat. Natürlich besteht manchmal eine Nähe zwischen sogenannten „Shitstorms“ und Hexenjagden. Doch diese Kritik an einem neuen Puritanismus wirkt wenig überzeugend. Allein deshalb schon, weil der Film zwar immer behauptet, Grenzen zu überschreiten, es dann aber doch nie tut.
Die zentrale Konfliktlinie wird zwischen Männern und Frauen gezogen. Die Freundinnen verschmelzen zu einer Mädchengang. Vorbild sind dabei die japanischen „Sukeban“-Filme aus den 1970er Jahren, die im Film gezeigt und später durch Kostüme zitiert werden. Doch auch die politische Positionierung von „Assassination Nation“ wirkt wie eine Pose. Gerade das linksliberale Pathos, welches gegen Ende des Films heraufbeschworen wird, macht ein wenig ratlos.
Besonders enttäuschend ist, wie leichtfertig das solide Ensemble verspielt wird. Die Figuren bleiben blass, die meisten der Darstellerinnen bekommen viel zu wenig zu tun. Von den vier Mädchen bekommen lediglich Lily und Bex interessante Charaktermomente spendiert, während die anderen wirken, als müssten sie lediglich das Bild füllen. Das verwundert vor allem bei Suki Waterhouse („The Bad Batch“, „Future World“), die ja eigentlich die bekannteste der vier Darstellerinnen ist und auch gleich an zweiter Stelle der Eröffnungs-Credits genannt wird, dann aber im Film selbst trotzdem so gar nichts zu tun bekommt.
Fazit: „Assassination Nation“ will viele Dinge zugleich sein: Ein Drama über das Erwachsenwerden, ein Rachefilm, ein politisches Manifest. Einfühlsam und aggressiv, provokant und bestätigend. Alles wird auf die Leinwand geworfen, doch wenig davon bleibt hängen. Sam Levinsons zweiter Film mutet immer zu kalkuliert und routiniert an, um dem wilden Treiben wirklich gerecht zu werden. Immerhin: Als Produkt seiner Zeit ist der Thriller durchaus interessant. Zumindest bis nächsten Monat.