Ein belebter Badestrand an der südfranzösischen Atlantikküste. Zwischen den im leuchtenden Sand liegenden Sonnenanbetern tollen Kinder herum, deren kieksende Stimmen sich von der gedämpften Radiomusik und den regelmäßigen Geräuschen von Wind und Wellen abheben. Ein Steg aus Stein ragt vom Ufer in das glitzernde Meer heraus. Schwimmer, Strandsportler, Flaneure, Familien. Jung und Alt, Dunkel und Hell, Dünn und Dick tummeln sich im und am Wasser. Schließlich läuft ein sehr schwarzer großer Hund durchs Bild. Mit dieser ausgedehnten Panorama-Einstellung einer Ferienszenerie beginnt Regisseurin Léa Mysius ihren ersten langen Spielfilm „Ava“ - und man kann sich an ihren Farben und Formen gar nicht sattsehen. Eine Handlung bräuchte es da gar nicht unbedingt.
Wenn nach einer bezaubernden kleinen Ewigkeit der erste Schnitt kommt, läuft der erwähnte Hund zu einem mit geschlossenen Augen auf dem Steg liegenden Mädchen und nascht von seinen Pommes. Damit kommt dann eine in elegant zusammengefügten Impressionen erzählte Geschichte in Gang: Das Mädchen ist die Titelheldin, der Mysius von nun an nicht mehr von der Seite weicht. Es ist der Sommer von Avas Coming-of-Age, und es ist auch der letzte Sommer, bevor sie erblinden wird. Doch dieses doppelte Drama entfaltet die auch für das Drehbuch verantwortliche Mysius auf meist ganz undramatische Weise. Ihr Film ist launisch und übermütig, manchmal platzt er fast vor Glück und Sinnlichkeit, dann wieder versinkt er in Trotz und Traurigkeit – ganz wie seine Protagonistin.
Die 13-jährige Ava (Noée Abita) erfährt, dass sich ihre Augenkrankheit weiter verschlimmern wird. Schon jetzt hat sie außer in hellem Tageslicht größte Mühe, etwas zu erkennen und sehr bald wird sie komplett erblinden. Die Nachricht trifft Avas alleinerziehende Mutter Maud (Laure Calamy) fast noch schwerer als das Mädchen selbst. Sie will die Ferien für ihre ältere Tochter zu etwas ganz Besonderem machen und fährt mit Ava und Baby Inès (Mila Cheuzzi) ans Meer. Während Maud mit dem zehn Jahre jüngeren Tété (Daouda Diakhaté) anbandelt, lässt Ava sich von Matthias (Baptiste Archimbaud) küssen, einem Teenager, der ihr das Strandsegeln beibringt. Viel mehr interessiert sie aber der Roma Juan (Juan Cano), der ihr mit seinem schwarzen Hund immer wieder über den Weg läuft. Als der junge Mann bei einer Messerstecherei verletzt wird, versorgt ihn Ava in einem alten Bunker am Strand mit Cola und Keksen…
Die erste Liebe, die Entdeckung der Sexualität, der Konflikt mit den Eltern: Auch in „Ava“ gibt es die Dinge, die so ziemlich in jedem Coming-of-Age-Film wichtig sind, aber Léa Mysius‘ Film ist dennoch anders als die anderen. Das liegt weniger an dem untypischen Element der fortschreitenden Erblindung, als vielmehr an der ebenso ungezwungenen wie unverblümten Erzählweise und Inszenierung. Die Protagonistin gibt sich düsteren Gedanken hin, zeigt sich jugendlich verantwortungslos und handelt gelegentlich erstaunlich kaltherzig. Sie gibt der Lust nach, nackt im Meer zu schwimmen, und studiert interessiert den Penis ihres Gefährten: „Sieht aus wie ein Tierchen.“ Und dann hantiert sie auch noch mit Schusswaffen…
Mysius beschönigt und romantisiert dabei nichts. Boshaftigkeit darf wirklich böse rüberkommen, Albträume als echt miese Erlebnisse und ein erster Kuss muss nichts Weltbewegendes sein – genauso wenig wie Nacktheit. Besonders schön sind die Szenen zwischen der störrischen und unvernünftigen Ava und ihrer liebevollen, aber auch sehr mit sich selbst beschäftigten Mutter. Auch dank der perfekt ausgewählten Schauspielerinnen kommt hier ohne aufgesetzte Dramatik die ganze Dynamik von Abnabeln und Festhalten, Einfühlung und Unverständnis zum Ausdruck. Beim ausführlichen Ausflug auf eine Roma-Hochzeit in einem kleinen Trailerpark am Rande der Stadt lässt sich die Regisseurin dagegen einfach treiben und streift dabei die Gefilde eines deftigen Krimis. Außerdem erlaubt sie sich immer wieder eine Prise Surrealismus und an anderer Stelle schwelgt sie dann wieder in schönster Sommerstimmung.
Zu guter Letzt friert die Filmemacherin das Bild ein und gönnt Ava eine märchenhafte Schlusseinstellung. Das ist vielleicht der schönste finale freeze frame seit François Truffauts „Sie küssten und sie schlugen ihn“. Hier gesellt sich ein perfektes Ende zu einem perfekten Anfang und wenn Ava zwischendurch das plötzlich aus dem Nichts ertönende Lied „Sabali“ von Amadou und Mariam mitsingt und dazu neckisch tanzt, dann kommt auch noch eine unvergessliche Musiknummer dazu. Der Blick, den ihr Juan in dem Moment zuwirft, bringt den entwaffnenden Charme dieser Szene auf den Punkt.
Fazit: Auf den perfekten Anfang folgt irgendwann ein perfektes Ende – und dazwischen gibt es ein etwas anderes Coming-of-Drama, stark gespielt und originell inszeniert. Eines der besten Regiedebüts seit langem.