Der Berlinale-Wettbewerbsbeitrag „Meine Tochter - Figlia Mia“ von „Sworn Virgin“-Regisseurin Laura Bispuri handelt von Vittoria, die zwei Wochen vor ihrem zehnten Geburtstag entdeckt, dass sie neben der Frau, die sich seit ihrer Geburt um sie kümmert, auch noch eine leibliche Mutter hat. An einer Stelle des Films steigt sie in ein enges Felsenloch an der sardischen Küste – und sofort ist klar, dass ihre Befreiung sinnbildlich für eine zweite Geburt stehen wird. Wer immer sie da rausholt, wird ihre wahre Mutter sein, schließlich hat der Spalt quasi die Form einer Vagina. Eine schrecklich eindeutige Metapher, die durch die ebenso beiläufig inszenierte wie überraschende Auflösung aber doch noch eine interessante Wendung bekommt – der eindeutige Höhepunkt des Films! Bei vielen anderen bleischweren Sinnbildern zuvor fehlt diese zweite Ebene allerdings. Zudem kratzt Bispuri bei ihrem Bemühen, die potentiellen Mütter so gegensätzlich wie nur irgendwie möglich in Szene zu setzen, an beiden Rändern immer wieder gefährlich nahe am Klischee.
Die neunjährige Vittoria (Sara Casu) wächst bei ihrer fürsorglichen Mutter Tina (Valeria Golino, „Rain Man“) in einem kleinen Dorf auf Sardinien auf. Beim Besuch eines Rodeos trifft sie zum ersten Mal auf Angelica (Alba Rohrwacher, „Hungry Hearts“), die sich dort gerade ziemlich betrunken von einem stark übergewichtigen Typen betatschen lässt. Was Vittoria nicht weiß: Angelica ist ihre leibliche Mutter und Tina unterstützt die psychisch instabile Frau seit Jahren finanziell, damit sie sich im Gegenzug von Vittoria fernhält. Nur reicht auch dieses Geld inzwischen einfach nicht mehr aus, der Gerichtsvollzieher fordert 28.733 Euro, sonst muss Angelica ihren Hof und ihre Tiere abgeben. Aber bevor sie für immer geht, besteht Angelica darauf, dass Tina ihre Tochter zumindest einmal bei ihr auf dem Hof vorbeibringt. Das Treffen läuft nicht besonders gut – aber trotzdem spürt Vittoria, dass Angelica mehr für sie ist als nur die sich merkwürdig benehmende Dorfschlampe…
Wenn man die feuerrothaarige Sara Casu gleich in der ersten Szene zum ersten Mal sieht, kann man sich nur schwer vorstellen, dass man mit ihr gemeinsam gleich die Geschichte eines radikalen Aufbruchs erleben wird – die junge Debütantin ist schon rein optisch der Inbegriff eines lieben kleinen Mädchens: in der Schule zwar eine Außenseiterin, aber wohlbehütet und umsorgt. Aber wenn Vittoria dann zum ersten Mal mit ihrer leiblichen Mutter zusammenkommt, versteht man trotzdem sofort, was sich die Neunjährige von ihr erhofft – und das ist nämlich gerade nicht die Geborgenheit, die man sonst mit der leiblichen Mutterschaft verbindet, sondern ganz im Gegenteil ihre Wildheit, ihr Außenseitertum und ja, auch ihre sexuelle Offenheit. Das ist eine spannende Abkehr von der vorherrschenden Rollenverteilung bei Geschichten mit zwei Müttern, aber zugleich bedient sich Laura Bispuri dabei auch immer wieder nur schwer verdaulicher (Tier-)Metaphern, um ihren Punkt zu machen. Am überdeutlichsten ist eine Erzählung über Aale, die zum Ablaichen ja auch in entfernte Gewässer schwimmen, bevor ihre Babys erst Jahre später wieder von alleine nach Hause finden.
Es ist eine harsche Landschaft, die der bosnische Kameramann Vladan Radovic hier mit seiner fiebrigen Handkamera in grandios-sonnendurchfluteten Bildern einfängt – und es ist ebenso harsch, was Vittoria alles in diesen zwei Wochen bis zu ihrem Geburtstag erleben muss. In meinem Bekanntenkreis höre ich immer wieder, wie manche geradezu allergisch darauf reagieren, wenn sich Eltern auf der Leinwand verantwortungslos verhalten – und die würden in „Meine Tochter - Figlia Mia“ wahrscheinlich schlicht die Flucht ergreifen. Natürlich geht es hier um die Zerstörung (elterlicher) Vorbilder und damit auch um das Finden zu sich selbst. Aber wenn Angelica jeden, dem sie in der Dorfkneipe einen bläst, anschließend gleich als ihren Verlobten vorstellt, oder es Tina offenbar so wichtig ist, dass ihre Tochter sie liebt, dass sie ihr für diese Liebe sogar aktiv schaden würde, dann schrammen beide Figuren nicht nur immer wieder die Grenze zum Klischee, es wird auch eine Menge Zuschauer geben, die dieses Verhalten schlicht unverzeihlich finden. Denen steht dann am Ende der Sinn wahrscheinlich eher nach einem Anruf bei den Jugendbehörden als danach, sich über das „Happy End“ zu freuen. Es ist auf jeden Fall ein ganz schmaler Grat, auf dem Laura Bispuri hier auf der Suche nach möglichst krassen Momenten wandelt.
Fazit: Eine ganz stark gefilmte Coming-of-Age-Geschichte, die der harschen sardischen Küstenlandschaft nicht nur visuell, sondern auch erzählerisch gerecht wird, sich dabei aber auch immer wieder schmerzhaft eindeutiger Metaphern bedient. Zudem sind die beiden Mütterfiguren echt schwer zu schlucken.
Wir haben „Meine Tochter - Figlia Mia“ bei der Berlinale 2018 gesehen, wo der Film im Wettbewerb gezeigt wird.