Die Musical-Sensation jetzt bei Disney+
Von Christoph PetersenGerade erst machte die Nachricht die Runde, dass die Theater am New Yorker Broadway frühestens Anfang 2021 ihre Tore wieder öffnen werden – und selbst das ist noch keine ausgemachte Sache. Für alle, die den Musical-Megahit „Hamilton“ live sehen wollen, haben sich die Aussichten mit der Schließung allerdings nur minimal verschlechtert – immerhin war es auch schon vor Corona so gut wie unmöglich, ein Ticket für das Richard Rodgers Theatre zu ergattern.
Seit dem Broadway-Debüt im August 2015 hat „Hamilton“ einen Box-Office-Rekord nach dem nächsten pulverisiert – von den Rekord-Nominierungen für den Tony Award (quasi das Theater-Äquivalent zu den Oscars) mal ganz zu schweigen. Disney hat für den Musical-Mitschnitt, der bereits 2016 mit der inzwischen nicht mehr aktiven Originalbesetzung entstanden ist, unfassbare 75 Millionen Dollar auf den Tisch gelegt – ein Rekord nicht nur für einen Konzertfilm, sondern die höchste Summe, die jemals für einen bereits fertiggestellten Film gezahlt wurde.
Alexander Hamilton (Lin-Manuel Miranda) und sein ständiger Rivale Aaron Burr (Leslie Odom Jr.).
Aber all diese Erfolge erscheinen noch unglaublicher, wenn man sich mal vor Augen hält, worum es in dem Stück eigentlich geht: Wisst ihr aus dem Stehgreif, wer Fritz Schäffer war? Würdet ihr euch ein Musical über ihn ansehen? Wahrscheinlich eher nicht. Der CSU-Politiker war der erste Finanzminister der Bundesrepublik Deutschland – und damit quasi „unser“ Alexander Hamilton, der von 1789 bis 1793 unter George Washington als erster Finanzminister der frischgegründeten Vereinigten Staaten von Amerika diente.
Dank seiner rhetorischen Fähigkeiten wird der 1776 aus der Karibik nach New York gekommene Waisenjunge Alexander Hamilton (Lin-Manuel Miranda) zu einem der Gesichter der Revolution. Nach dem Krieg gegen die britischen Besetzer, bei dem er als rechte Hand des Oberbefehlshabers George Washington (Chris Jackson) dient, wird Hamilton ebenfalls unter Washington zum ersten Finanzminister der USA: Für sein Vorhaben, ein gesamtamerikanisches Bankensystem aufzubauen, stimmt er im Gegenzug zu, die US-Hauptstadt aus den Nordstaaten in die Südstaaten zu verlegen…
Der Komponist, Autor und Hauptdarsteller Lin-Manuel Miranda , der seit „Hamilton“ als Genie gefeiert wird und auch außerhalb der Broadway-Bubble zum Superstar aufgestiegen ist, ließ sich nicht nur von der Politiker-Biographie „Alexander Hamilton“ von Ron Chernow inspirieren – sondern auch von Aaron Sorkins Weiße-Haus-Serie „The West Wing“, aus der er sogar mehrere Dialoge fast direkt in seine Songs übernommen hat.
Das klingt nach der nischigen Vision eines Historien-Nerds oder einer Off-Off-Broadway-Produktion für ein sehr speziell interessiertes Publikum. Aber Pustekuchen: Mit seiner Hip-Hop-Geschichtsstunde, in der Kongressdebatten ausgefochten werden, als wären sie ein Rap-Battle in „8 Mile“, hat Miranda mit seiner „farbenblinden“ Besetzung nicht nur den Zeitgeist getroffen, sondern auch eine der mitreißendsten Bühnenerfahrungen überhaupt geschaffen.
Alexander Hamilton und seine Ehefrau Eliza (Phillipa Soo).
Selbst wenn in dem Mix aus Hip-Hop, R&B, Pop und Soul immer auch klassische Show-Tunes mitklingen, sollten hier auch Musical-Muffel also ruhig noch mal einen Versuch wagen. Wobei man von den historischen Hintergründen zumindest eine rudimentäre Ahnung haben sollte – sonst verpasst man womöglich noch die köstlichen Spitzen in den urkomischen Songs des wehleidigen Königs George III. (Jonathan Groff) oder die bissigen Seitenhiebe in den Rap-Battles mit Thomas Jefferson (Daveed Diggs).
Die Regie des Mitschnitts hat mit Thomas Kail der Original-Regisseur des Musicals selbst übernommen. Technisch gibt es dabei wie zu erwarten absolut nichts auszusetzen. Bei abgefilmten Bühnenperformances erlebt man es ja oft, dass der Regisseur übermäßig oft Nahaufnahmen einsetzt, um eine Emotionalität zu schaffen, die er dem Stück selbst offenbar nicht zutraut – aber Kail kennt das Stück und er weiß, was für Reaktionen es allabendlich auslöst. Deshalb gibt es solche „herbeigezoomten“ intimen Momente nur bei einigen ruhigeren Songs, während er insgesamt überhaupt kein Problem damit hat, uns immer wieder auch die ganze Bühne zu zeigen und das Stück so für sich sprechen zu lassen.
Eigentlich sollte der Film erst im Oktober 2021 in die Kinos kommen – und da ein Ende des „Hamilton“-Hypes noch immer nicht absehbar ist, hätte er mit Sicherheit auch an den Kinokassen ordentlich Reibach gemacht. Nun erscheint der Film schon mehr als ein Jahr früher direkt auf Disney+. Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass die Broadway-Theater dicht sind und man sich deshalb mit der Streaming-Auswertung nicht selbst Konkurrenz macht.
Im Gegensatz zu „Artemis Fowl“, bei dem Disney die Gunst der Stunde genutzt hat, um den sicheren Fantasy-Flop still und leise zu Disney+ abzuschieben, erweist sich „Hamilton“ dennoch als freudiges Geschenk für die Abonnenten. Endlich kann man das Stück sehen, von dem eh schon alle reden, ohne dafür eine stolze vierstellige Summe auf dem Ticket-Schwarzmarkt hinzublättern.
Fazit: Natürlich kann ein Mitschnitt das Original nie ersetzen. Aber selbst vor dem Fernseher bekommt man soviel Gänsehaut, dass man sich kaum ausmalen mag, wie es da erst den Zuschauern vor Ort ergangen sein muss.