Als Mitte der 1990er Jahre plötzlich ein neues, aufregend-anderes japanisches Kino international für Furore sorgte, war neben Regisseuren wie Takashi Miike („Ichi – The Killer“) und Shin'ya Tuskamoto („Tokyo Fist“) auch SABU an der Spitze der jungen Wilden mit dabei. Die Werke des Schauspielers und Regisseurs mit dem bürgerlichen Hiroyuki Tanaka sind meist Oden an die kleinen Leute, die er in seinem Film selbst die unwahrscheinlichsten Widerstände überwinden lässt. Das gilt auch für seinen Berlinale-Wettbewerbsbeitrag „Mr. Long“, in dem auch der von SABU ebenfalls gerne und oft bemühte Zufall wieder eine große Rolle spielt. Dazu kommen noch einige bis ins Absurde überhöhte, knüppelharte Gewaltexzesse sowie völlig unerwartete Slapstick-Szenen. So weit, so typisch für den „Monday“-Regisseur – nur gelingt es ihm diesmal zu selten, die einzelnen Elemente seiner wilden Genre-Mixtur zu einem stimmigen Ganzen zu fügen.
Nachdem er gerade in seiner Heimat Taiwan eine Truppe Gangster massakriert hat, wartet der nächste Job für Killer Long (Chen Chang) in Japan. Aber dort geht alles schief und Long landet in den Händen des Mannes, den er eigentlich umbringen sollte - nur der Zufall ermöglicht ihm die Flucht: Mit einer schweren Stichverletzung, ohne Papiere und Sprachkenntnis irrt er durch die Gegend, bis er in einer brachliegenden Häusersiedlung Zuflucht findet. Hier pflegt ihn der kleine Jun (Runyin Bai), der sich mit seiner wie Long aus Taiwan stammenden, drogensüchtigen Mutter Lily (Yiti Yao) ebenfalls in einem der heruntergekommenen Häuser versteckt hält. Zum Dank hilft Long Lily (gegen ihren Willen und mit recht rabiaten Mitteln), wieder clean zu werden, zudem kocht er für die Mutter und ihren kleinen Sohn. Longs Kochkünste sprechen sich schnell in der Nachbarschaft herum und ehe Long sich versieht, haben die einfachen Leute von nebenan seine Behausung renoviert und ihm eine fahrbare Suppenküche besorgt, mit der er fortan vor einem nahegelegenen Tempel einen immer beliebter werdenden Imbiss betreibt...
Wie die selbst nur knapp über dem Existenzminimum lebenden Nachbarn dem unbekannten Fremden, mit dem sie sich nicht einmal richtig verständigen können, Teile ihres Hab und Guts überlassen und kurzerhand eine Suppenküche zusammenzimmern, ist einer jener großartigen SABU-Momente, von denen sich auch in „Mr. Long“ wieder eine ganze Menge finden: Einmal mehr zelebriert der Regisseur das Leben der kleinen, von der Gesellschaft abgehängten Menschen, die trotzdem auf Teufel komm raus zusammenhalten. Während SABU der Stimmungsschwenk vom brutal-blutigen, extrem stilisiert gefilmten Auftakt hin zu einer zutiefst humanistischen Komödie noch gut gelingt, kommt er anschließend allerdings mehrfach ins Schleudern. Eine eingeschobene längere Rückblende, in der Lilys Drogensucht erklärt und eine überraschende Querverbindung zu Long enthüllt wird, bleibt etwa ein kompletter Fremdkörper - diese fast schon Film-im-Film-artige Romantik-Drama-Episode passt genauso wenig in das Gesamtbild wie ein locker-leicht inszenierter Familienausflug nach Nikko.
Indem er eine brutale Vergewaltigung fast direkt auf leichtfüßig inszenierte, fast schon betont kitschige Glücksmomente folgen lässt, versucht SABU die Schockwirkung noch zu erhöhen, was aber gar nicht nötig gewesen wäre. Denn dem Regisseur gelingt es im Verbund mit seinen drei tollen Hauptdarstellern ohnehin schon, den Zuschauer mit diesen auf ihre sehr spezielle Art sympathischen Außenseiter-Figuren mitfiebern zu lassen. Obwohl die einzelnen Elemente nicht immer ineinandergreifen, sind sie für sich allein genommen trotzdem großartig: Wenn der ausschließlich mit einem Klappmesser tötende Long sich durch eine gewaltige Überzahl an Gegnern metzelt, ist das schlichtweg bärenstark inszeniert. Und die Situationskomik, die sich durch der Gegensatz zwischen den völlig überdreht-gutgelaunten Nachbarn und dem stets supercoolen, fast teilnahmslos wirkenden Long sorgt für jede Menge Lacher. Der lauteste davon: wenn ein besonders durchgeknallter Helfer seine Kumpels aus dem „Perfume“-Fanclub für eine gutgelaunte (sprich: peinliche) Tanzperformance einbestellt, weil er aufgrund von Longs aufgesammeltem T-Shirt glaubt, dass der kühle Killer ebenfalls ein Fan der J-Pop-Mädchenband sei.
Fazit: „Mr. Long“ bietet herausragende Action-, Drama- und Comedy-Momente – aber diesmal bringt der für seine wilden Genre-Mixe berüchtigte SABU diese verschiedenen Elemente zu selten schlüssig zusammen.
Wir haben den Film im Rahmen der Berlinale 2017 gesehen, wo „Mr. Long“ als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wird.