Family First! So lautet nicht nur der Name eines Kölner Musikfestivals, zahlreicher Paartherapiepraxen oder einer ehemaligen national-konservativen Partei in Australien, sondern so könnte man auch die Wertevorstellungen einer typischen georgischen Durchschnittsfamilie zusammenfassen. In der ist das Wohl der Gemeinschaft nämlich ein hohes Gut, und so erklärt sich der Auslöser für die existenzielle Familienkrise in der deutsch-georgisch-französischen Co-Produktion „Meine glückliche Familie“ fast von allein: Im Film von Nana Ekvtimishvili und Simon Groß fasst eine 52-jährige Mutter zweier erwachsener Kinder von heute auf morgen den Entschluss, im Altweibersommer ihres Lebens noch einmal etwas Neues zu wagen und ihrer geschockten Familie (zumindest räumlich) den Rücken zu kehren. Dass „Meine glückliche Familie“ auf internationalen Filmfestivals mehr als ein Dutzend Mal ausgezeichnet wurde und noch im Rennen für den Deutschen Filmpreis 2018 ist, kommt nicht von ungefähr: So alltäglich die Geschichte zunächst anmuten mag, so sehr überzeugt sie im Detail als präzise Charakterstudie und Querschnitt durch die von starken Familienbanden geprägte georgische Mittelschicht.
Eigentlich gibt es für Literaturlehrerin Manana (Ia Shugliashvili) allen Grund zur Freude: Sie feiert ihren 52. Geburtstag und ihr Mann Soso (Merab Ninidze) hat die ganze Verwandtschaft zu einer großen Feier eingeladen. Doch Manana ist unglücklich: Die Wohnung in der Stadt teilt sie sich nicht nur mit ihrem Gatten, sondern auch mit ihren Eltern Lamara (Berta Khapava) und Otar (Goven Cheishvili), ihrem Sohn Lasha (Giorgi Tabidze) sowie ihrer Tochter Nino (Tsisia Qumsishvili) und deren Ehemann Vakhos (Giorgi Khurtsilava). In dieser Drei-Generationen-Gemeinschaft fällt ihr zunehmend die Decke auf den Kopf – und so fasst sie kurzerhand den Entschluss, ihren Mann zu verlassen und in eine eigene Wohnung zu ziehen. Für Mananas Familie bricht eine Welt zusammen. Auch ihrem Bruder Rezo (Dimitri Oragvelidze) gelingt es nicht, sie zurückzuholen – denn spätestens, als Manana auf dem Wochenmarkt eine alte Schulfreundin wiedertrifft und mit ihr ein erkenntnisreiches Klassentreffen besucht, ist sie sich sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Das sieht ihr Mann allerdings anders…
Die Regisseure Nana Ekvtimishvili und Simon Groß, die bereits das starke Teenager-Drama „Die langen hellen Tage“ gemeinsam inszeniert haben, entlarven ihren Filmtitel „Meine glückliche Familie“ schon in der Eröffnungssequenz als Ironie. In der gemeinsamen Wohnung geht es im Alltag nicht etwa heiter und fröhlich, sondern überraschend giftig und wie im Taubenschlag zu – und so stellt sich fast die Frage, wie es Manana überhaupt so lange in diesem Chaos aushalten konnte. Auf eine ausführliche Exposition wird verzichtet, stattdessen sind wir gleich mittendrin im Geschehen und nehmen eine Beobachterperspektive ein: Kameramann Tudor Vladimir Panduru („Graduation“) setzt konsequent auf eine Handkamera, die als unsichtbarer Gast in der Wohnung stets mit dabei ist und deren leicht wackelige Bilder dem Geschehen einen auffallend nüchternen, fast dokumentarischen Anstrich verleihen. Neben der abgekühlten Ehe von Manana und Soso werden auch die wichtigsten Nebenfiguren schon vor der folgenreichen Geburtstagsparty mit wenigen Strichen skizziert: Lasha hängt meist vorm Laptop, Nino löst sich nur widerwillig aus den Armen ihres Ehemannes Vakhos, die herrische Lamara meckert pausenlos rum und ihr bedauernswerter Gatte Otar macht nur den Mund auf, wenn es sich absolut nicht vermeiden lässt.
Das heißt allerdings nicht, dass wir in diesem Familiendrama nur Stereotypen zu sehen bekämen, denn fast jede Figur wartet mit einer Überraschung auf: Während Stubenhocker Lasha plötzlich seine schwangere Freundin Titsi (Mariam Bokeria) mitbringt, zeichnet ausgerechnet der stille Otar für die amüsanteste Szene verantwortlich – humorvolle Zwischentöne bleiben ansonsten aber die Ausnahme. Vielmehr liefern Ekvtimishvili und Groß einen authentischen, weil stark gespielten und messerscharf beobachteten Ausschnitt aus dem Alltag einer georgischen Großfamilie, der nebenbei einen guten Eindruck vom Land und seinen temperamentvollen Leuten vermittelt: Das gemeinsame Wohnen auf engstem Raum ist auch den fehlenden finanziellen Mitteln geschuldet, auf dem Wochenmarkt ist ein netter Plausch dennoch wichtiger als jeder verdiente Lari und das ausbaufähige Bildungssystem spiegelt sich in den Wänden der Klassenzimmer, die dringend einen neuen Anstrich benötigen. Die Grundlage für den zentralen Konflikt des Films bilden aber die stark ausgeprägten Familienbande, wie wir sie aus dem südlichen Europa kennen: Mananas Flucht kommt einer Entehrung der eigenen Sippschaft gleich und wird in aller Ausführlichkeit hochemotional debattiert.
Durch diese Dialoglastigkeit ergibt sich der Kontrast zwischen Mananas altem und neuen Leben schon aus den seltenen Minuten der Stille und des Innehaltens, deren Wirkung durch die Abstinenz von künstlicher Filmmusik verstärkt wird: Was das Leben und vor allem das erstmalige Alleinsein in einer neuen Wohnung für die georgische Lehrerin bedeutet, verdeutlichen ausdrucksstarke Bilder, die für sich sprechen. Wenn Manana nach einem harten Arbeitstag nach Hause kommt, auf ihrer kleinen Stereoanlage Mozarts „Klaviersonate Nr. 11“ auflegt und sich ein Gläschen Rotwein auf dem Balkon genehmigt, braucht es keine Worte, um zu verdeutlichen, dass diese Frau ihr spätes Glück gefunden und die richtige Entscheidung getroffen hat. Der Konflikt mit ihrer Verwandtschaft hätte allerdings noch konsequenter auf die Spitze getrieben werden können: Nicht von ungefähr zählen Mananas Nachforschungen in einer fremden Wohnung zu den brisantesten und spannendsten Momenten der Geschichte. Dass uns die Filmemacher am Ende ein Stück weit in der Luft hängen lassen, unterstreicht wiederum: „Meine glückliche Familie“ lebt weniger von großer Dramatik oder gar einer forcierten feministischen Botschaft, als vielmehr von seiner Authentizität und einer starken (und von Ia Shugliashvili stark gespielten) Hauptfigur, zu deren Innenleben wir im Laufe des Films nach und nach durchdringen.
Fazit: Nana Ekvtimishvili und Simon Groß haben mit „Meine glückliche Familie“ ein präzise beobachtetes, fast dokumentarisch anmutendes und überzeugend gespieltes Familiendrama geschaffen, dessen Alltäglichkeit nicht etwa eine Schwäche, sondern seine größte Stärke ist.
Wir haben „Meine glückliche Familie“ auf der Berlinale 2018 gesehen, wo der Film in der Sektion „LOLA at Berlinale“ gezeigt wurde.