Gut gesungen, aber beim Songwriting gibt’s noch Luft nach oben
Von Sidney ScheringGeschichten über außergewöhnliche Tiere, die bei Menschen leben und sowohl für allerlei Chaos als auch für herzliche Momente des Zusammenhalts sorgen, sind kaum noch aus den Buchhandlungen wegzudenken. Und wenn sie sich dort erfolgreich schlagen, folgt meist auch noch eine Kinoadaption. Den Goldstandard stellen die von immenser Herzenswärme erfüllten „Paddington“-Filme dar, während beispielsweise „Clifford der große rote Hund“ vergangenes Jahr flauschig ins solide Mittelfeld tapste. Ein dritter „Paddington“- und ein zweiter „Clifford“-Film sind bereits in Arbeit, doch bis dahin gibt es nun erst mal einen anderen Vertreter des Genres, der zur Abwechslung mal nicht auf Flauschigkeit als Verkaufsargument setzt. Denn diesmal hat der Titelheld Schuppen statt Fell. Dafür können die Regisseure Will Speck & Josh Gordon bei „Lyle – Mein Freund, das Krokodil“ auf Pop-Nummern der „Greatest Showman“-Komponisten sowie den Promifaktor des Lyle vertonenden Popstars Shawn Mendes setzen. Das Ergebnis holpert zwar gelegentlich, ist aber auch richtig knuffig – selbst ohne Fell!
Der engagierte, aber wenig begabte Bühnenkünstler Hector P. Valenti (Javier Bardem) träumt von seinem Durchbruch in der TV-Talentsuche „Show Us What You’ve Got“. Bei der Suche nach etwas, das seinen Act aufpeppen könnte, entdeckt er das zwar nicht sprechende, aber dafür singende Baby-Krokodil Lyle (Originalstimme: Shawn Mendes). Als Lyle jedoch bei seinem groß beworbenen Debüt vor lauter Lampenfieber die Show vermasselt, stürzt das Hector in tiefe Schulden, weshalb er New York verlassen muss. Monate später macht Lyle die Bekanntschaft der Familie Primm. Der neurotische und schüchterne Junge Josh (Winslow Fegley) ist sofort begeistert, auch seine Mutter Katie (Constance Wu) freundet sich rasch mit dem Reptil an. Aber wie lange können sie Lyle vor Papa Joseph (Scoot McNairy) und dem strengen Nachbarn Mr. Grumps (Brett Gelman) verstecken? Und wie wird das Wiedersehen zwischen Lyle und Hector ablaufen?
Lyle passt auch deshalb so gut in die Familie Primm, weil die Animations-Künstler*innen eine solch hervorragende Arbeit abgeliefert haben.
Nicht nur deutsche Kinogänger*innen dürfte der „Señorita“-Chartstürmer Shawn Mendes deutlich mehr sagen als Bernard Wabers „Lyle“-Kinderbuch-Reihe. Nach dem Erfolg ihrer Songs für das Hugh-Jackman-Vehikel „Greatest Showman“ ist auch das Liedermacher-Doppel Benj Pasek & Justin Paul aktuell auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. Und so lässt sich an manchen Stellen des Films das Gefühl nicht abschütteln, dass sich die Filmschaffenden übermäßig auf dem aktuellen Reiz dieser Popstar-Namen ausruhen. Paradebeispiel dafür ist ein Wendemoment in Lyles und Joshs Freundschaft: Obwohl das höfliche Krokodil unter Lampenfieber leidet, ist es deutlich abenteuerlustiger als Josh, der Angst vor der großen Stadt hat. Daher nimmt Lyle den menschlichen Angsthasen mit auf eine abendliche, abenteuerliche Tour durch Manhattan. Sie endet mit einem festlich gedeckten Tisch unter Sternenhimmel, wo der wie ausgewechselt wirkende Josh von seiner Familie erzählt. Als ihm auffällt, dass dauernd nur er redet, fragt er Lyle, ob dieser womöglich gar nicht sprechen könnte?
Lyle schaut kurz geknickt drein, bevor er ein Lied improvisiert. Statt aber konkret auf Josh einzugehen und ebenfalls sein Innerstes offenzulegen, schmettert Lyle einen gefälligen, eingängigen Popsong, der keinen Bezug zum Vorhergegangenen hat, sondern lediglich das Gesamtgefühl des Films einfängt. Mendes singt das im Original „Top Of The World“ betitelte Lied zwar mit einer angenehmen Mischung aus Fröhlichkeit und Verletzbarkeit (und zum Glück gilt das auch für den in der deutschen Synchro klanglich perfekt als Mendes-Ersatz besetzten Pat Lawson). Trotzdem hemmt das inhaltlich so beliebige Naturell des Songs die Emotionalität dieser Sequenz enorm.
Dass sie es durchaus besser können, beweisen die Verantwortlichen wenige Filmminuten später: Um die von ihm eingeschüchterte Kochbuchautorin Katie von seinen freundlichen Absichten zu überzeugen, gibt Lyle ein munteres Lied voller Koch- und Backmetaphern, während er vital durch die Küche wirbelt und mit seinem auftauenden Gegenüber unbeschwerten Schabernack treibt. Der Song hat Pepp, die Choreografie des Trick-Krokodils und der ansteckend lächelnden Wu ist spaßig und die aus dem Song wachsende Montage ist voller quirliger Gags. So hätten ruhig mehr Musikeinlagen in „Lyle – Mein Freund, das Krokodil“ sein dürfen!
Stattdessen bringen sich Drehbuchautor William Davies („Der gestiefelte Kater“) sowie die Songschreiber Pasek & Paul wiederholt in die missliche Lage, dass die Songs zwar hübsch anzuhören sind, die Story jedoch vor allem ausbremsen. Diese wiederum gerät zwischen den Gesangseinlagen überaus hastig, so dass sich weder die emotionale Wirkung eines Verrats noch die einer Versöhnung richtig entfalten kann. Dafür profitiert „Lyle – Mein Freund, das Krokodil“ ungemein von der glaubwürdigen und ausdrucksstarken Animation Lyles, der schon mit einem leichten Mundwinkelzucken oder sinkenden Augenlidern nuanciert Gefühle vermittelt.
Zumindest unter den menschlichen Cast-Mitgliedern entpuppt sich Javier Bardem als absoluter Szenendieb!
Der menschliche Cast verstärkt die Illusion mit einer warmherzig-gewitzten Interaktion mit dem CGI-Kroko. Und selbst ohne Lyle sind die Primms eine sympathisch gespielte Familie, deren Mitglieder pointiert geschriebene Macken haben. Der menschliche Szenendieb des Films ist jedoch eindeutig Oscargewinner Javier Bardem („No Country For Old Men“), der Hector in feister Alleinunterhaltermanier verkörpert. Der völlig verantwortungslose Exzentriker ist ein frohes Energiebündel, das vor lauter Begeisterungsfähigkeit wiederholt vergisst, die Konsequenzen seines Handelns zu überdenken. Dass Hector daher manchmal zu einer Art Schurke-wider-Willen wird, inszenieren die „Office Christmas Party“-Regisseure Speck & Gordon mit einer für Familienfilme atypischen Nebensächlichkeit.
Nicht durchdachtes Handeln ist in dieser Filmwelt eine Momentaufnahme, kein unverzeihlicher Dauerzustand. Dieser Mangel an Moralinsäure kommt dem Film sehr zugute, da er somit die Lektion „Wenn man Fehler begeht, ist man nicht für ewig der Buhmann – entscheidend sind Reue und Wiedergutmachung“ verständlich vorlebt, statt sie mahnend vorzukauen. So wird aus „Lyle – Mein Freund, das Krokodil“ ein ebenso harmloses wie kurzweiliges Familienvergnügen voller Herzenswärme. Würde die charttaugliche Musik zudem mehr zur Story beitragen, statt nur hübsch zu klingen, wäre Lyle vielleicht sogar wirklich „Top Of The World“…
Fazit: Ein liebenswert animiertes Krokodil singt und tanzt sich in die Herzen einer quirligen Familie – und Javier Bardem zieht einfach sein Ding durch! „Lyle – Mein Freund, das Krokodil“ macht Spaß und hat Herz, ist aber erzählerisch zu hastig und sprunghaft, um sein schuppiges Potenzial voll auszuschöpfen.