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    Tatort: Freitod
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    2,0
    lau
    Tatort: Freitod
    Von Lars-Christian Daniels

    Das Thema Sterbehilfe wird schon seit Jahrzehnten in der Gesellschaft, den Medien und der Politik kontrovers diskutiert. Auch in die beliebteste deutsche Krimireihe hat die umstrittene Praxis bereits Einzug gehalten: Im herausragenden „Tatort: Außer Gefecht“, der über weite Strecken im Fahrstuhl des Münchner Olympiaturms spielte, geriet Hauptkommissar Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) 2006 in die Fänge eines eiskalten Serienkillers (Jörg Schüttauf), der zahlreiche Patienten auf dem Gewissen hatte. 2008 war es dann die Ludwigshafener Hauptkommissarin Lena Odenthal (Ulrike Folkerts), die im vielgelobten, aber etwas überschätzten „Tatort: Der glückliche Tod“ von einer todkranken 17-Jährigen emotional an ihre Grenzen gebracht wurde. Nun versucht sich auch das Schweizer Fernsehen an einem Krimi zum Thema Sterbehilfe – doch der „Tatort: Freitod“ von Regisseurin Sabine Boss ist wenig originell und über weite Strecken schleppend geraten, nur der tolle Showdown entschädigt etwas für die vielen Längen und die hölzerne Umsetzung.

    Gisela Aichinger (Barbara-Magdalena Ahren) will nicht mehr leben. Von Schmerzen gepeinigt begibt sich die todkranke Frau in die Hände der Schweizer Sterbehilfe-Organisation Transitus und schläft nach einem Giftcocktail friedlich ein. Während ihre Tochter Daniela (Susanne-Marie Wrage) erleichtert die Formalitäten abwickelt, dreht ihr obdachloser Sohn Martin (Martin Butzke) durch: Als der Sarg der Verstorbenen durch die vorm Haus versammelten Mitglieder der protestierenden christlichen Vereinigung Pro Vita getragen wird, bedroht er die Anwesenden und behauptet, seine Mutter wäre keineswegs freiwillig gestorben. Kurz darauf wird Sterbebegleiterin Helen Mathys (Ruth Schwegler) mit einer Plastiktüte erstickt. Ist Aichinger der Täter? Weil der Obdachlose untertaucht, befragen die Luzerner Hauptkommissare Reto Flückiger (Stefan Gubser) und Liz Ritschard (Delia Mayer) zunächst Transitus-Leiter Dr. Hermann (Andreas Matti) und dessen Mitarbeiter Nadine Camenisch (Anna Schinz) und Jonas Sauber (Sebastian Krähenbühl). Verdächtig macht sich auch der aalglatte Pro Vita-Chef Josef Thommen (Martin Rapold), der mit dem Dialysepatienten Mike Zumbrunn (Lukas Kubik) einen wertvollen Informanten unter seinen Fittichen weiß...

    „Ihr werdet büßen! Blut! Frösche! Vieh- und Menschenpest!“ – Schon bei seinem ersten Auftritt wünscht der an einer bipolaren Störung leidende Martin Aichinger seinen verdutzten Mitmenschen mal eben die biblischen Plagen an den Hals. Sollen wir über diese wirren Schimpftiraden lachen oder Mitleid mit dem verwirrten Mann haben? Was in einem humorvollen „Tatort“ aus Münster oder Weimar vermutlich zum Schmunzeln animieren würde, ist in diesem Luzerner Krimi todernst gemeint: Die Drehbuchautorinnen Josy Meier und Eveline Stähelin haben mit dem cholerischen Hauptverdächtigen („Mama wollte lebenslänglich leben!“) eine überaus anstrengende Figur geschaffen, zu der der Zuschauer kaum Zugang finden kann und die angesichts ihrer Krankheit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit als Täter ausscheidet. Dennoch dokumentieren die Filmemacher seinen Streifzug hinter dem Rücken der Kommissare in aller Ausführlichkeit – eine Rechnung, die zu keinem Zeitpunkt aufgeht. Dem seltsamen Plastikbeutelträger mangelt es nicht nur an Sympathiewerten, sondern vor allem an einer Vorgeschichte, die seinen sozialen Abstieg greifbar macht.

    Der „Tatort: Freitod“ steht nämlich exemplarisch für die vielen enttäuschenden Luzerner Beiträge der vergangenen Jahre: Die Ermittlungsarbeit wird so behäbig und hölzern vorgetragen wie in kaum einer zweiten Stadt der Krimireihe, und den Kommissaren ist die Dynamik nach dem starken „Tatort: Ihr werdet gerichtet“ von 2015 endgültig wieder abhandengekommen. Die 993. „Tatort“-Ausgabe plätschert eine gute Stunde lang ohne nennenswerte Höhepunkte vor sich hin, und auch der müde Mini-Flirt des neuen Praktikanten Vikinesh Jeyanantham (Kay Kysela) mit Gerichtsmedizinerin Corinna Haas (Fabienne Hadorn), die sich schon im vorigen Luzerner „Tatort: Kleine Prinzen“ einen jüngeren Kollegen anlachte, verpufft als Randnotiz. Immerhin: Der bis dato oft überzeichnete Regierungsrat Eugen Mattmann (Jean-Pierre Cornu) gibt sich diesmal angenehm handzahm, und die Synchronisation der schwyzerdütschen Originalfassung raubt dem Film weniger Atmosphäre, als es in der Vergangenheit häufig der Fall war.

    Auch dem Reizthema Sterbehilfe – besser gesagt: der Sterbebegleitung, wie wir einleitend aufgeklärt werden – fügen die Filmemacher keine neuen Aspekte hinzu, vielmehr verheddern sie sich gelegentlich in oberflächlichen Debatten, bei denen die Kommissare erwartungsgemäß zwischen die Fronten geraten. Zumindest müssen Flückiger und Ritschard die Streitgespräche über das Für und Wider dieser Praxis, die in der Schweiz erlaubt und in Deutschland verboten ist, aber nicht selbst austragen: Eine Diskussion im Dienstwagen, der im traditionell gesellschaftskritischen „Tatort“ aus Köln wohl in eine minutenlange Kontroverse ausgeartet wäre, würgt Flückiger charmant ab – was auch daran liegt, dass er mit seinen Gedanken bei seiner neuen Flamme ist, die der Zuschauer weiterhin nicht zu Gesicht bekommt. Deutlich interessanter als diese bemühte SMS-Liaison, die offenbar der Charakterzeichnung dienen soll, gestaltet sich der Showdown: Die Auflösung ist angesichts mehrerer falscher Fährten kein Kinderspiel und wird von Filmemacherin Sabine Boss („Undercover“) spannend in Szene gesetzt. Bei einer netten Schlusspointe ist dann auch Flückiger in seinem Element und entschädigt ein wenig für die vielen Längen des einfallsarmen Drehbuchs.

    Fazit: Der „Tatort: Freitod“ bestätigt mit Ausnahme des starken Showdowns die weitverbreite Meinung über den „Tatort“ aus der Schweiz: Er ist hölzern, langatmig und wenig originell.

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