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    Wildlife
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Wildlife
    Von Carsten Baumgardt

    Immer wieder fühlen sich Schauspieler berufen, den großen Schritt zu wagen und selbst bei einem Kinofilm Regie zu führen – schließlich sind sie mit vielen Aspekten der Arbeit hinter der Kamera aus eigener Anschauung vertraut. In dem wandlungsfähigen „There Will Be Blood“-Star Paul Dano schlummerte die Ambition, einen Film zu inszenieren, schon viele Jahre: Jetzt hat er allen künstlerischen Mut zusammengenommen und adaptiert bei seinem erstaunlich stilsicheren Regiedebüt „Wildlife“ Richard Fords gleichnamigen Roman für die große Leinwand. Das in den 1960er Jahren angesiedelte Familiendrama über ein Paar in der Ehekrise, die aus der Sicht des Teenagersohns betrachtet wird, ist ein ruhig und mit viel Gespür für Zwischentöne und Bruchstellen erzähltes Sittenbild einer Ära.

    1960: Die Brinsons sind gerade erst in eine Kleinstadt im ländlichen Montana gezogen und haben dort ein kleines Haus gemietet. Vater Jerry (Jake Gyllenhaal) hat einen Job als Greenkeeper auf einem lokalen Golfplatz gefunden, während Mutter Jeanette (Carey Mulligan) den Haushalt führt und auf den 14-jährigen Sohn Joe (Ed Oxenbould) aufpasst. Das heile Familienleben bekommt ernsthafte Risse, als Jerry seine Arbeit verliert und in Selbstmitleid und Depressionen versinkt. Jeanette nimmt eine Position als Schwimmlehrerin an, um die Familie über Wasser zu halten. Als sich Jerry endlich aufrafft, heuert er bei der Feuerwehr an, um in den Wäldern die gefährlichen Flächenbrände des Sommers zu bekämpfen. Erst für den Winter kündigt er seine Rückkehr an. Jeanette ist stocksauer, dass er die Familie zurücklässt und bändelt derweil mit dem älteren örtlichen Unternehmer Warren Miller (Billy Camp) an.

    Als Paul Dano („Little Miss Sunshine“) persönlich bei Romanautor Richard Ford anfragte, ob er dessen Buch verfilmen dürfe, gab der ihm nach eigener Aussage den besten Tipp überhaupt: Löse dich von der Vorlage und mache etwas Eigenes daraus! Das hat Dano beherzigt, der gemeinsam mit seiner Lebenspartnerin Zoe Kazan („Ruby Sparks“) das Skript geschrieben und auch produziert hat. So illustriert er das Familien-Thema des Romans nicht nur, sondern erzählt auf seine Art von den Dingen, die ihm besonders am Herzen liegen, vor allem vom Aufwachsen und von den Widrigkeiten des Erwachsenseins. Dazu hat er sich mit Kameramann Diego Garcia („Cemetery Of Splendour“) einen Mitstreiter gesucht, der mit wunderschönen Panoramabildern des ländlichen Montana für wirkungsvolle atmosphärische Kontraste in einem sonst sehr intimen Schauspieler-Film sorgt.

    Das Drama wird aus dem Blickwinkel des Jungen erzählt, aber der arme Joe ist als Spielball seiner sich zunehmend entfremdenden Eltern weitgehend zur Passivität verurteilt. Darsteller Ed Oxenbould („The Visit“) verfolgt mit großen, staunenden Augen wie Carey Mulligan („An Education“) sich als unzufriedene Mutter in den Vordergrund spielt. Ihre Jeanette will sich aus dem Rollenkorsett befreien, das in der Gesellschaft Anfang der 60er Jahre für Frauen wie sie vorgesehen ist, ohne genau zu wissen, wie das geht und wo sie hinwill. Sie hofft, dass ihr die Affäre mit dem reichen Miller zu einem sozialen Aufstieg verhilft und macht ihren sprachlosen Sohn zum Mitwisser und Komplizen.

    Mulligan glänzt als wild entschlossene, aber zugleich orientierungslose Frau, die jahrelang ihre Wünsche hintenangestellt hat und nun ohne Rücksicht auf die Familie ihrem Ego folgt. Danos „Prisoners“-Kumpel Jake Gyllenhaal („Nightcrawler“) steht hier in zweierlei Hinsicht im Schatten der Kollegin. Zum einen ist sein Neu-Feuerwehrmann Jerry im kompletten Mittelteil des Films abwesend, zum anderen ist die Figur im Vergleich zu den anderen sehr eindimensional: Stolzer, (über)angepasster Vater verliert seinen Job, bekommt Depressionen und tut dann das, was ein Mann der 60er tun muss… Da fällt Jeanettes aus der Not geborener Kampf mit sich selbst wesentlich präziser und differenzierter aus.

    Es ist schmerzhaft mitanzusehen, wie sich Jeanette ihrem Sugar Daddy Warren Miller an den Hals schmeißt, während gleichzeitig die Familie vor die Hunde geht. So sehr man ihr ein selbstbestimmteres Leben wünscht, so falsch fühlt sich die Wahl ihrer Mittel an. Denn der größte Leidtragende ist ihr Sohn Joe, der keine Chance hat, einzugreifen oder anders aktiv zu werden. Zugleich wird klar, dass es unter den spezifischen Umständen der Handlungszeit für Mutter und Sohn wenig Alternativen gab.

    Den tragischen Kern des Entfremdungsdramas bringt Paul Dano in der einfallsreichsten und stimmungsvollsten Szene des Films auf den Punkt: Jeanette fährt im Auto mit Joe bis auf wenige Dutzend Meter an die verheerenden Waldbrände in betörender Natur heran, auf der Tonspur tobt das wilde Feuer, das Dano erst im letzten Augenblick wie ein gefräßiges Monster sichtbar macht. Hier gibt die Mutter dem Sohn die Chance, sich in den abwesenden Vater einzufühlen und nachzuempfinden, was der an der vordersten Feuerfront erleben mag. Ein großer Kinomoment.

    Fazit: Schauspieler Paul Dano zeigt in seinem Regiedebüt „Wildlife“ beachtliche inszenatorische Reife und schafft ein ebenso sensibles wie sehenswertes 60er-Jahre-Familiendrama.

    Wir haben „Wildlife“ im Rahmen der Filmfestspiele von Cannes 2018 gesehen, wo er als Eröffnungsfilm der Nebenreihe „Critic’s Week“ gezeigt wurde.

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