Marokko. Ein Sandsturm bahnt sich seinen unaufhaltsamen Weg durch die scheinbar endlosen Weiten der Sahara. Vom Wind aufgegriffene Sandkörner bewegen sich wild kreisend entlang des sich weit erstreckenden Dünenmeers. Etwa so, wie das Land Sinnbild für afrikanisches Ambiente ist, steht Josef von Sternbergs gleichnamiges Liebesdrama für ungeahnte emotionale Ausstrahlung, verbunden mit einer enorm elektrisierenden Bildkraft. Nachdem Sternberg kurz zuvor mit seinem Musical-Drama „Der blaue Engel“ einen der herausragenden Filme der Weimarer Zeit schuf, gelang ihm mit „Marokko“ ein ausdrucksstarker Film, der trotz inhaltlicher Schwächen, besonders durch die starken und sehr ausgefeilten Charaktere überzeugt.
Nachtclubsängerin Amy Jolly (Marlene Dietrich) hat es in die marokkanische Hafenstadt Mogador verschlagen, um im Kabarett von Lo Tinto (Paul Porcasi) aufzutreten. Dort interessiert sich der amerikanische Fremdenlegionär Tom Brown (Gary Cooper) für sie. Doch auch der aus Europa stammende und wohlhabende Monsieur La Bessiere (Adolphe Menjou) umwirbt die attraktive Amy. Während sich Tom auf dem Weg zu Amy befindet, begegnet er Madame Cäsar (Eve Southern), der Frau seines Vorgesetzten (Ullrich Haupt). Auch sie scheint dem draufgängerischen Soldat nicht abgeneigt zu sein. Nachdem es zu einer Schlägerei mit zwei Männern kommt, wird Tom unter Arrest gestellt und zur Strafe zwecks eines Himmelfahrtskommandos an die Front versetzt.
Der Film „Marokko“ ist mehr als das, was der dünn gestrickte Plot vermuten lässt. „Marokko“ erzählt, wie die beiden Ausgewanderten Amy und Tom nach einer dunklen Vergangenheit ihren neuen Lebensweg im fernen Marokko suchen, von der sexuellen Anziehung, die der Verlockung von Reichtum und Luxus widersteht, wie eine Kabarettsängerin, die anfangs mit ihrem verführerischen Auftritt über eine Vielzahl von Männern beliebig verfügt, letztlich an ihrem Liebesverlangen fast zerbricht.
Von Sternbergs Inszenierung ist die große Stärke von „Marokko“. Lang gedehnte Sequenzen mit beinahe starren Einstellungen, in denen jeder gedankliche Ausdruck, jede Mimik und Gestik mehr Aussage haben, als tausende Worte. Enge Gassen werden vom Licht und den überhängenden Holzgerüsten in ein Bild aus schraffierten Schatten getaucht. Eine sanfte Wendung des Kopfes, wenig später stellt sich ein ausdrucksvoller Moment gedanklicher Übertragung ein. Von Sternberg hat sein Augenmerk unverkennbar auf die verführerische und kontrastreiche Bildkraft des Stummfilms gelegt, dabei im Gegenzug allerdings auch Defizite in den Bereichen Spannung und vor allem Unterhaltungswert in Kauf genommen.
Weiteres Lob verdient Kameramann Lee Garmes, der zu Recht für den künstlerischen Aspekt bei den Academy-Awards nominiert wurde. Garmes gelang es vor allem, die Enge und Unübersichtlichkeit in den Gassen Mogadors einzufangen, die der Zuschauer hautnah miterlebt. Einmal ist es ein Kamel, das die Sicht auf die einmarschierende Fremdenlegion versperrt, anderorts eine kleine Gruppe einheimischer Kurtisanen. Auch der vielschichtige Ausdruck der Charaktere wurde durch die beinahe regungslosen und gesichtsnahen Aufnahmen verstärkt.
Marlene Dietrich ist im Zusammenspiel mit Adolphe Menjou und Gary Cooper der große Trumpf von „Marokko“. Die schillernde Persönlichkeit der Amy Jolly verkörpert sie mit einer unfassbar elektrisierenden Intensität. „Quand l'amour meurt – wenn die Liebe stirbt“ singt Amy in Lo Tintos Nachtclub. Glamourös, mysteriös und verführerisch – Marlene Dietrich brilliert mit laszivem Blick und immenser Anziehungskraft auf das andere Geschlecht. Besonders bemerkenswert ist die Wandlung der Person Amy Jolly. Noch zu Beginn wirkt der Einsatz weiblicher Reize geradezu spielerisch, im weiteren Verlauf des Films wird sie vom eigenen Liebesverlangen förmlich zerrissen. Auch Adolphe Menjou ist als vermögender Geschäftsmann La Bessier denkwürdig besetzt. Schon unter der Regie Charlie Chaplins in „A Woman Of Paris“ ließ Menjou sein Talent aufblitzen. Mehr als dreißig Jahre später verkörperte er den hinterlistigen französischen General Broulard in Stanley Kubricks „Wege zum Ruhm“. Zusammen mit dem draufgängerischen Fremdenlegionär Tom Brown ringt er nun um Amys Gunst. Gary Cooper verleiht seiner Figur das Charisma, welches für den nötigen Wind in Form von lässigen Sprüchen und einen gewissen Grad an Coolness sorgt. Der Filmstoff schien zum aufregenden Leben der Marlene Dietrich zu passen. Während der Dreharbeiten im kalifornischen San Fernando Valley begann die gebürtige Berlinerin eine Affäre mit Filmpartner Gary Cooper, die von Sternbergs Frau später als Scheidungsgrund nannte.
Letzten Endes ist es das Mysterium sowie die hoch aufgeladene Atmosphäre zwischen Marlene Dietrich und Gary Cooper, die „Marokko“ so erfolgreich machte. Insgesamt gab es vier Oscar-Nominierungen, unter anderem für Josef von Sternberg und Marlene Dietrich. Obwohl die Dialoge äußerst knapp gehalten sind und der Plot eine beängstigende Handlungsarmut aufweist, vertraute der österreichisch-amerikanische Regisseur voll und ganz auf die faszinierende Kraft der Bilder und macht aus „Marokko“ ewiges Symbol und Zufluchtsort für Sehnsucht und emotionale Ausdruck.