Philosophie ist gefährlich und Heidegger ganz besonders. Aber das war ja eigentlich auch vorher schon klar. Nachdem „Die große Stille“-Regisseur Philip Gröning für sein stilistisch strenges, dabei aber trotzdem schmerzhaft authentisches Häusliche-Gewalt-Drama „Die Frau des Polizisten“ 2013 in Venedig mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet wurde, tritt er mit seinem erneut fast dreistündigen Coming-Of-Age-Drama „Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot“ nun im Wettbewerb der Berlinale an, wo es nach der Pressevorführung erstmal einige Buhs hagelte, bevor schließlich doch noch ein wenig Applaus aufbrandete. Eine ambivalente Reaktion für einen Film, der wohl auch bei allen zukünftigen Vorführungen sein Publikum spalten wird. Dabei fängt alles so harmlos an: Robert (Josef Mattes) ist zwar selbst sitzengeblieben, hilft seiner Zwillingsschwester Elena (Julia Zange) aber trotzdem bei deren Vorbereitungen auf die mündliche Abiturprüfung in Philosophie. Als Gegenleistung zahlt sie ihm an diesem sonnigen Wochenende irgendwo auf dem Land direkt neben einer Tankstelle das Bier. In den Gesprächen geht es hauptsächlich um die Natur der Zeit - was ist die Vergangenheit, was die Zukunft, kann die Gegenwart überhaupt existieren, wo wir sie doch mit unseren Sinnen doch immer nur verspätet wahrnehmen können?
Aber Philosophie ist wie gesagt gefährlich, genau wie Zukunftsangst und verbotene Liebe, weshalb die Situation nach zwei Stunden Heidegger-Durchkauen fundamental eskaliert. Deshalb ist auch nicht ganz sicher, weshalb die Buhrufer nun eigentlich genau gebuht haben – weil sie sich die ersten zwei Stunden so sehr gelangweilt haben oder weil sie sich über die Tabubrüche der letzten Stunde so sehr aufgeregt haben? Beides gut möglich. Aber fangen wir vorne an: Robert und Elena sitzen beim Abipauken, das eher wie eine existenzielle Plauderei über die Natur der Dinge anmutet. Die meiste Zeit sind sie dabei im Kornfeld, manchmal spazieren sie auch im Wald oder baden in einem See. Zwischendurch geht es immer wieder zur Tankstelle, um Bier, Zigaretten und Eis zu kaufen, oder um unter den Tankenden einen möglichen Sexualpartner für Elena zu finden, die hat nämlich mit ihrem Zwilling um einen VW gewettet, dass sie noch vor der Philosophieprüfung mit einem Mann schlafen wird. Schon gleich zu Beginn, wenn er das Bild nur wiederholt ganz kurz aufflackern lässt, deutet uns Gröning an, dass er uns da gleich nicht in eine konkrete, gefestigte Welt entlassen wird, sondern in eine durchlässige und brüchige. Die einzelnen Szenen wirken dann auch bisweilen ziellos, aber sie reflektieren eben die Zeit, wie die Geschwister sie wahrnehmen, an diesem letzten Wochenende vor dem Erwachsensein und vielleicht sogar der Trennung, denn zum Studieren müsste Elena ja sicher aus der Provinz wegziehen.
Das alles ist ganz wunderbar gefilmt und so entsteht schnell ein ambivalentes Gefühl von absolut sorgloser, zugleich aber doch auch Unheil ankündigender Zeitlosigkeit. Die Szenen im Kornfeld wirken auf fast schon kitschige Art sommerlich, aber dann streut Gröning immer wieder auch Nahaufnahmen von Ameisen oder Wespen ein, die über Elenas nackte Beine krabbeln oder über die Reste ihres Apfels herfallen. Und der auf einer langsam untergehenden Zigarettenschachtel über den See rudernde Grashüpfer gehört sowieso zu den stärksten Bildern dieser Berlinale. Unterdessen wird die schwer fassbare Beziehung der Geschwister gleich auf mehreren Ebenen ausgelotet. So ordnet nicht nur Gröning die Zwillinge immer wieder anders zueinander im Raum an, auch sie selbst haben ein kindliches Ritual, bei dem es darum geht, die (räumliche) Distanz zwischen ihnen ständig neu auszuloten und zu überwinden: Wenn sie sich mit einer gewissen Entfernung gegenüberstehen, fragt einer „Kommst du oder komme ich?“, und erst dann geht einer auf den anderen zu, um ihn in den Arm zu nehmen. Ihr Verhältnis zu sich, zueinander, zum Erwachsenwerden, zur Welt und zur Zeit an sich ist in einem ständigen Fluss, den Gröning mit seiner vermeintlich zufälligen, aber in ihrer Beiläufigkeit extrem strengen Inszenierung einfängt.
Irgendwann reicht es schließlich nicht mehr, dass sich die Zwillinge mit einem Schlag auf die Spitze einer die Uhrzeit ansagenden Plastikpyramide immer wieder ihrer eigenen Existenz versichern, und so kommt es schließlich zur Eskalation. Teen Angst, Philosophie und Wahnsinn rücken dabei ganz eng zusammen, was gerade vor dem Hintergrund von Heideggers „Sein und Zeit“ ziemlich klischeehaft ist. Und während die Popliteratin Julia Zange („Der lange Sommer der Theorie“) mit einer faszinierenden Undurchschaubarkeit gegen jede Vereinnahmung durch eine allzu offensichtliche Lesart anspielt, bedient Josef Mattes („Silent Youth“) fast nur das Bild vom rebellisch-selbstzerstörerischen Teenager-Philosophen, was seine Robert zur eindeutig weniger interessanten der beiden Hauptfiguren macht. Die Eskalation selbst ist dann gar nicht mal in erster Linie wegen einem der ästhetisch ansprechendsten Durchschüsse der Filmgeschichte eine solche Provokation, sondern weil Gröning dem Zuschauer hier praktisch jede Chance nimmt, weiter auf der Seite der Protagonisten zu stehen. Wobei man den Film gerade nach den letzten Einstellungen natürlich auch ganz anders lesen könnte. Aber da war das Buhen leider schon losgegangen.
Fazit: „Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot“ fordert sein Publikum nicht nur durch seine Länge von fast drei Stunden heraus, sondern auch noch durch einige weitere Provokationen. Trotz vieler toller Bilder, einer wunderbar fließenden Inszenierung und einer starken Leistung von Julia Zange hält sich der Erkenntnisgewinn dabei allerdings letztlich in Grenzen.
Wir haben „Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot“ auf der Berlinale 2018 gesehen, wo der Film im Wettbewerb gezeigt wird.