Wenn Jugendliche in der Pubertät plötzlich wütende Musik hören, Drogen nehmen oder von Facebook auf Snapchat umsatteln, um sich von ihrer Elterngeneration zu distanzieren, dann ist das das Normalste der Welt. Aber wie geht man mit einem Teenager um, der in einer weitestgehend agnostischen Gesellschaft von einem Tag auf den nächsten beginnt, die Zeilen der Bibel wörtlich auszulegen? Schließlich kann er immer behaupten, bei seinem Akt der Auflehnung die Moral auf seiner Seite zu haben. In seiner Theaterverfilmung „Der die Zeichen liest“ (basierend auf dem Stück „Märtyrer“ des deutschen Autors Marius von Mayenburg) exerziert der russische Regisseur Kirill Serebrennikov („Ehebruch“) diese Idee radikal-konsequent durch - inklusive eingeblendeter Fußnoten, um zu beweisen, dass die vom Protagonisten Benjamin (auf angsteinflößende Weise von sich selbst überzeugt: Petr Skvortsov) zitierten Stellen allesamt tatsächlich exakt so in der Bibel stehen. Nicht nur weil die fundamentalistischen Gewaltaufrufe des Alten Testaments in heutigen Kirchenpredigten eher ausgespart werden, muss man während des Films ganz schön oft schlucken.
Dabei setzt Benjamin zunächst eher Kleinigkeiten durch, etwa dass die Mädchen im Schwimmunterricht wieder Badeanzüge statt Bikinis tragen müssen. Die Schulverantwortlichen haben sichtlich Schiss, sich gegen die religiösen Regeln zu stellen, und womöglich finden sie es sogar ganz gut, wieder zu konservativen Werten zurückzukehren. Selbst als Benjamins Aufrufe immer radikaler werden, er etwa als Affe verkleidet gegen das Unterrichten der Evolutionslehre protestiert, gibt das Kollegium mit Ausnahme der Biologielehrerin Elena (Victoria Isakova) lieber nach - Tenor: „So schlimm wäre es doch nun wirklich nicht, der Theorie von Charles Darwin auch die Schöpfungslehre aus der Bibel gegenüberzustellen.“ Das alles wirkt hier dermaßen beängstigend schlüssig (die Tea Party fordert in den USA schließlich auch nichts anderes), dass man zwischenzeitlich schon mal vergisst, dass man hier letztendlich nur dem Durchlauf einer in der Anlage extrem didaktischen Versuchsanordnung zuschaut. Dies wird allerdings wieder deutlich, wenn Benjamins Kreuzzug im Finale dermaßen fundamentalistische und auch gewalttätige Züge annimmt, dass es erstmals nicht glaubhaft erscheint, dass etwas ganz Ähnliches morgen so auch mitten in Deutschland passieren könnte. Wobei: Vielleicht ist dieser Glaube an die menschliche Vernunft auch nur unheimlich naiv - und ein solch fundamentalistischer Wandel steht uns doch schon bald ins Haus!
Fazit: Ein erschreckend-einleuchtendes Gedankenexperiment, selbst wenn nicht jede Eskalationsstufe gleichermaßen glaubwürdig geraten ist.
Wir haben „Der die Zeichen liest“ im Rahmen der 69. Filmfestspiele von Cannes gesehen, wo der Film in der Reihe Un Certain Regard gezeigt wurde.