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    Joaquim
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Joaquim
    Von Christoph Petersen

    In Brasilien ist der 21. April ein Nationalfeiertag, denn an diesem Tag ist im Jahr 1792 der Freiheitskämpfer Joaquim José da Silva Xavier hingerichtet worden – sein abgeschlagener Kopf wurde auf dem Kirchplatz in Vila Rica ausgestellt und Stücke seines zerteilten Körpers wurden in den umliegenden Dörfern zur Abschreckung auf die Straße geworfen. In der ersten Szene des Berlinale-Wettbewerbsbeitrags „Joaquim“ spricht der aufgespießte Kopf nun aus dem Off zum Publikum, bevor Regisseur Marcelo Gomes („Once Upon A Time Was I, Verônica“) zurückgeht zu den Anfängen, als der heute wegen seiner eher fragwürdigen zahnärztlichen Talente vor allem als Tiradentes (=Zahnzieher) bekannte Revolutionsverschwörer noch als Fähnrich für das Militär der portugiesischen Besatzer tätig war: An einer Zollstation machen Joaquim (Júlio Machado) und die anderen Soldaten Jagd auf Goldschmuggler – wer am meisten schnappt, wird befördert, nur Joaquim hat aufgrund seiner ärmlichen Herkunft schlechte Karten. Dabei braucht er das Geld dringend, um seine schwarze Geliebte (Isabél Zuaa) aus der Sklaverei freizukaufen…

    Mit einer aktiven, nah an die Figuren - und ihre verfaulten Zähne - rangehenden Kamera sowie satt-körnigen Bildern, die genauso gut aus einem Italo-Western stammen könnten, zeichnet Marcelo Gomes das Bild eines normalen Mannes und ambivalenten Anti-Helden (was natürlich viel spannender ist als das Bild eines zur Ikone verklärten Nationalhelden): Eigentlich will Joaquim nämlich gar nicht die Unabhängigkeit Brasiliens, sondern in den Reihen der Portugiesen aufsteigen, aber die lassen ihn nicht - statt ihn zu befördern, entsenden sie ihn ins unerschlossene Hinterland zum Goldsuchen. Diese unfreiwillige Expedition ist das Herzstück von „Joaquim“ – toll gefilmt, historisch extrem akkurat umgesetzt, aber auch ein wenig mit angezogener Handbremse erzählt. Der Wahnsinn, dem der erfolglos suchende Joaquim inmitten von Jaguars und Piranhas langsam anheimfällt, springt einem hier lange nicht so direkt ins Gesicht wie in Werner Herzogs Entdecker-Epos „Aguirre, der Zorn Gottes“.

    Nach Joaquims Rückkehr wandelt sich das mit nur 97 Minuten ungewöhnlich kompakte Historien-Biopic (die eigentliche Verschwörung wird komplett ausgespart, es geht nur um die Zeit davor) fast schon zu einer bissigen Satire: Der heutzutage als Begründer einer ganzen Bewegung gefeierte Tiradentes wird hier nämlich zum Spielball der Mächtigen im 18. Jahrhundert zurechtgestutzt. Nachdem ihn die Portugiesen verarscht haben, wird er von einem katholischen Priester mit den Ideen der Aufklärung gefüttert. Es gab lautes Gelächter im Kino, als Joaquim berichtet, was er in seinen Büchern über (Nord-)Amerika gelesen hat: Dort werde niemand nach seiner Herkunft oder nach seinem Vermögen beurteilt, sondern es zähle allein der Charakter - eine köstliche Szene. Auch die finale Einstellung hat es noch einmal in sich: Joaquim sitzt zum ersten Mal mit seinen Mitverschwörern an einer Tafel, aber er ist der einzige am Tisch, der tatsächlich an das ganze Freiheitsgerede glaubt - die reichen Kaufleute um ihn herum wollen die Portugiesen allein wegen der hohen Steuern loswerden. Und während alle piekfein ihre Kartoffeln mit Messer und Gabel speisen, stopft sich Joaquim seine Fleischkeule ohne Rücksicht auf Verluste mit den Fingern in den Mund – und merkt noch nicht einmal, dass er in dieser Runde eigentlich absolut nichts verloren hat.

    Fazit: Eine sehr gelungene historische Politsatire und ein trotz starker Bilder nur durchschnittliches Expeditions-Abenteuer.

    Wir haben den Film im Rahmen der Berlinale 2017 gesehen, wo „Joaquim“ als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wird.

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