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    Simpel
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Simpel
    Von Antje Wessels

    Als Produzent Michael Lehmann während einer Urlaubsfahrt nach Italien das Hörbuch zum französischen Roman „Simple“ entdeckte, war er von der Geschichte eines ungleichen Brüderpaares, das nach einem schweren Schicksalsschlag alleine über die Runden kommen muss, so begeistert, dass er sich umgehend die Filmrechte an dem Buch von Marie-Aude Murail sicherte. Und damit hat er offensichtlich ein gutes Näschen gehabt, denn nachdem der Roman 2006 unter dem Titel „Simpel“ auch in deutscher Sprache auf den Markt gekommen war, gewann er unter anderem den deutschen Jugendliteraturpreis. Um Murails Balanceakt zwischen Komik und Tragik ohne Unfälle auf die Leinwand zu bringen, vertraute Michael Lehmann die Regie Markus Goller an, der vor allem in „Friendship!“ schon ein gutes Gespür für das Bittersüße gezeigt hat. Im Falle von „Simpel“ besteht die Schwierigkeit vornehmlich darin, dass mit dem titelgebenden Barnabas alias Simpel eine Figur im Mittelpunkt steht, die mit ihrer schweren geistigen Behinderung – je nach Reifegrad des Betrachters - sehr leicht Mitleid oder Spott hervorruft. Markus Goller bleibt realistisch: Beides kommt in seinem Film vor, doch lässt er derartige Gefühlsregungen nie unkommentiert. Mit einem Höchstmaß an Respekt und ohne falsche Sentimentalität kreiert er mit der zwischen todtraurig und ausgelassen wechselnden Tragikomödie „Simpel“ einen der besten deutschen Filme des Jahres.

    Die Brüder Ben (Frederick Lau) und Simpel (David Kross) sind ein Herz und eine Seele. Seit er denken kann, kümmert sich Ben aufopferungsvoll um seinen geistig behinderten Bruder, der aufgrund von Geburtskomplikationen immer auf dem geistigen Stand eines Kleinkindes bleiben wird. Die Familie hat sich mit der Situation arrangiert, doch als ihre Mutter unerwartet stirbt, werden Ben und Simpel auf eine harte Probe gestellt: Simpel soll in ein Heim eingewiesen werden. Der Einzige, der diesen Beschluss rückgängig machen könnte, ist ihr Vater David (Devid Striesow), der sich bereits vor Jahren von seiner Familie verabschiedet hat und nach Hamburg gezogen ist. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion beschließt Ben, in einem gestohlenen Polizeiwagen in die Hansestadt zu reisen und dort gemeinsam mit Simpel nach David zu suchen. Unterwegs treffen sie auf die Sanitäter Aria (Emilia Schüle) und Enzo (Axel Stein), außerdem macht Simpel Bekanntschaft mit der sympathischen Prostituierten Chantal (Annette Frier). Solange sein geliebtes Stofftier Monsieur Hasehase dabei ist, kann den Brüdern eigentlich nichts passieren. Doch die Hamburg-Odyssee wird für Ben und Simpel auch zu einer nervlichen Bewährungsprobe…

    Die Prämisse von „Simpel“ erinnert unweigerlich an jene von Til Schweigers 2014er-Kassenschlager „Honig im Kopf“. Auch hier prallt ein amüsanter, mit allerhand urkomischen Stationen gespickter Roadtrip auf eine dramatische Krankheitsstudie. Doch damit enden die Gemeinsamkeiten auch schon. Denn während Schweiger seinem Film mit einer unausgereiften Mischung aus gewollter Albernheit und halbherzigem Realismus die Wahrhaftigkeit raubte, gehen Regisseur Markus Goller und sein Drehbuchautor Dirk Ahner („Die Pfefferkörner und der Fluch des schwarzen Königs“) weitaus subtiler vor und zeigen enormes Fingerspitzengefühl. Schon in der allerersten Szene zeigt sich jene emotionale Ambivalenz, die „Simpel“ in den kommenden 113 Minuten prägen wird: Darin stellt Ben erschrocken fest, dass sein Bruder ohne Aufsicht das Haus verlassen hat und findet ihn schließlich ausgelassen am Strand spielend. Er hält ihm eine halbherzige Standpauke, ist aber in erster Linie erleichtert, dass es ihm gut geht. Und er ist dankbar, dass Simpel nie seine Lebensfreude verliert.

    Aus der enormen emotionalen (und auch körperlichen) Belastung für Simpels Umfeld macht Markus Goller nie einen Hehl. Im Gegenteil: Auch Bens Stress und die Momente am Rande der Verzweiflung bekommen hier ausreichend Raum – wenn Simpel selbst beim fünften Versuch nicht versteht, was sein Bruder von ihm möchte, dann darf Frederick Lau („Victoria“) einen veritablen Wutanfall zeigen. Aber Schuldzuweisungen gibt es hier nicht. Das Ganze wird vielmehr gerade dadurch besonders berührend, dass beide alles in ihren Kräften Stehende versuchen, um dem anderen das Leben nicht allzu schwer zu machen. Selbst der Vater, der die Familie einst überfordert verlassen hat, wird hier nicht etwa zum herzlosen Ignoranten stilisiert, sondern mit seinen komplexen Gefühlen ernstgenommen. Im Austausch mit seinem „normalen“ Sohn spricht der neu verheiratete David offen über seine Schwierigkeiten mit Simpel und so einfühlsam wie Devid Striesow („Ich bin dann mal weg“) dies in einem kurzen, aber prägnanten Auftritt spielt, lässt sich das Verhalten des Vaters sogar zumindest im Ansatz nachvollziehen.

    Im Verlauf der kurzweiligen zwei Kinostunden (die nebenbei auch als filmische Liebeserklärung an die Hansestadt Hamburg fungieren) treffen die Brüder auf verschiedene schillernde, nicht immer ganz klischeefreie Nebenfiguren. Die von der fantastischen Annette Frier („Lucky Loser“) gespielte Prostituierte Chantal sorgt in ihrer lakonisch-trockenen Art vor allem für Lacher, während Axel Stein („Männertag“) und Emilia Schüle („Jugend ohne Gott“) als Sanitäter glänzen, die Ben mit Rat und Tat zur Seite stehen. Wenn Steins Enzo Simpel abends zu Bett bringt, dann rührt das vor allem deshalb fast zu Tränen, weil es dem Schauspieler im selben Moment gelingt, enormes Verständnis für Bens schwierige Situation zum Ausdruck zu bringen. Der wiederum sieht sich alsbald mit einem schwierigen Gewissenskonflikt konfrontiert, der in Frederick Laus Darstellung lebendig und nachfühlbar wird. An seiner Seite schlüpft David Kross („Der Vorleser“) wie selbstverständlich in die Haut eines geistig Behinderten, an dessen Gebaren man sich zwar gewöhnen muss (wie es bei der Interaktion mit echten Behinderten eben auch ist), der den Bogen zum Overacting jedoch nicht überspannt. Er macht seinen Simpel zu einem herzensguten Menschen, der sich nicht über seine Behinderung definiert, sondern durch jede Menge Eigensinn und Persönlichkeit. Nur wenn am Ende alles auf die sowieso vielleicht nicht so entscheidende Frage hinausläuft, wer von den beiden Brüdern den anderen mehr braucht, tut sich Markus Goller mit der Antwort ein bisschen schwer.

    Fazit: „Simpel“ ist das wahrhaftige Porträt einer innigen Bruderliebe, das zu Tränen rührt und trotzdem auch immer wieder zum Brüllen komisch ist. David Kross und Frederick Lau machen aus der Feelgood-Tragikomödie auch darstellerisch ein Fest.

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