Der berühmte Eid des Hippokrates verpflichtet Mediziner, nach bestem Wissen und Gewissen im Interesse ihrer Patienten zu handeln. Dass der Imperativ des Helfens einen Arzt auch in ein moralisches Dilemma stürzen kann, darum geht es im neuen Film des Isländers Baltasar Kormákur („101 Reykjavík“, „Everest“), der den ebenso schlichten wie präzisen Titel „Der Eid“ trägt. Der Regisseur selbst verkörpert die Hauptfigur, einen Herzchirurgen, der durch tragische, zum Teil selbst verschuldete Umstände in eine Situation gerät, in der er seinem Berufsethos kaum noch folgen kann. Der Filmemacher Kormákur treibt den Familienvater mit voll angezogener Spannungsschraube konsequent in die Enge: „Der Eid“ ist ein kompakt inszeniertes psychologisches Thriller-Drama mit doppeltem Boden, das grundsätzliche Fragen über die menschliche Natur aufwirft.
Der gut betuchte Herzchirurg Finnur (Baltasar Kormákur) sorgt sich um seine 18-jährige Tochter Anna (Hera Hilmar). Die hat nämlich die Schule verlassen und ist Hals über Kopf in den zwielichtigen Dealer Óttar (Gísli Örn Garðarsson) verliebt. Um den feierwütigen und zunehmend psychisch labilen Teenager von Drogenexzessen fernzuhalten, zeigt Finnur Óttar bei der Polizei an, woraufhin diese dessen Drogenvorräte beschlagnahmt. Auf Geheiß seiner Hintermänner fordert Óttar den Einkaufswert der Ware von Finnur zurück: immerhin sechs Millionen isländische Kronen, also rund 50.000 Euro. Zunächst will der Arzt nur einen Teil des Geldes zahlen, und auch nur unter der Bedingung, dass Óttar Anna verlässt. Das lässt sich Kriminelle nicht bieten und erhöht den Druck. Wie weit geht Finnur, um seine Familie zu schützen?
Dem Regisseur und Darsteller gelingt es sehr glaubhaft und mit großer Leinwandpräsenz, die Zwangslage des Vaters und Arztes zu vermitteln, der in Anbetracht der verfahrenen Lage zu perfiden Mitteln greift. Ob er festen Trittes mit dem Fahrrad durch die felsige, weite Landschaft Islands fährt oder mit dem Skalpell präzise Schnitte am offenen Herzen setzt – es ist immer wieder eine an Verbohrtheit grenzende Entschlossenheit zu spüren: So harmlos und durchschnittlich wie Finnur zunächst anfangs wirkt, ist er nicht. Das geht sogar so weit, dass zwischenzeitlich der Dealer Óttar zum gefühlten Opfer wird, während der Protagonist als übereifriger Aggressor mit stahlharten Nerven dasteht.
Machtverhältnisse und psychische Zustände verschieben sich hier häufig ganz subtil und allmählich: Baltasar Kormákur setzt seine inszenatorischen und erzählerischen Mittel sparsam, aber effektiv ein, so etwa bei der Einführung der Vater-Tochter-Beziehung zwischen Finnur und der gerade so volljährigen Anna: Die junge Frau kommt zu spät zum Gottesdienst für ihren verstorbenen Großvater, weil sie bis 15 Uhr nachmittags verschlafen hat, trägt ein halb durchsichtiges, für den Anlass zu kurzes Kleid und kaut Kaugummi. In einem kleinen Seitenblick Finnurs auf die Tochter sind sofort die väterlichen Sorgen zu erkennen, die den Plot in Gang bringen, und mit einem abendlichen Besuch von Óttar folgt gleich die zugehörige „Gefahrenquelle“. Im Kontrast zu den Problemen mit Anna steht die Beziehung zwischen Finnur und seiner zweiten noch ganz kleinen Tochter: Hier zeigt sich, dass er tatsächlich ein sehr liebevoller Vater ist.
Als Finnur den Kontakt zu Anna verliert, läuft alles auf eine ultimative Konfrontation zwischen Finnur und Óttar heraus. Ohne hier den Ausgang des Konflikts zu verraten, sei angemerkt, dass die Eskalation die Figuren und das Publikum gleichermaßen moralisch herausfordert. Die verzwickten Entscheidungen, die hier getroffen werden müssen, geben dem Thrillerdrama eine zusätzliche Dimension und der sich in Schnee und eisiger Kälte unausweichlich weiterdrehenden Gewaltspirale eine tragische Note – wobei der Ausgang bis zum Ende offen bleibt.
Fazit: Baltasar Kormákur verstrickt die Hauptfigur und das Publikum in seinem effektiven Thriller in verzwickte moralische Fragestellungen.