Auf den ersten Blick passen die beiden eigentlich gar nicht zusammen: Sie, die actionaffine Regisseurin solcher Genre-Klassiker wie „Near Dark“, „Gefährliche Brandung“ oder „Strange Days“, und Er, der mehrfach preisgekrönte Reporter mit den Spezialgebieten Irakkrieg und nationale Sicherheit. Trotzdem haben Kathryn Bigelow und Mark Boal gleich für ihren ersten gemeinsamen Film „The Hurt Locker“, der auf einer von Boals Irakkriegs-Reportagen basiert, jeweils zwei Oscars gewonnen - und ihr kontrovers diskutiertes und wohl auch deshalb weniger preisgekröntes Nachfolgewerk „Zero Dark Thirty“ über die Jagd nach Osama Bin Laden hat sogar noch höhere Wellen geschlagen. Doch aller guten Dinge sind bekanntermaßen drei – und so basiert auch ihr neues gemeinsames Projekt wieder auf einem realen historischen Ereignis, das Boal für sein Skript abermals akribisch wie eine New-York-Times-Reportage recherchiert und das Bigelow erneut schweißtreibend wie einen Psycho-Thriller inszeniert hat: In „Detroit“ erzählt das Duo die Geschichte des inzwischen zu Unrecht in Vergessenheit geratenen Algiers Hotel Incident, wobei die vermeintlich gegensätzlichen Talente von Bigelow und Boal auch diesmal wieder grandios miteinander harmonieren.
Nachdem die weiße Mittelschicht seit dem Zweiten Weltkrieg vornehmlich in die Vororte gezogen ist, leben Ende der 1960er Jahre fast nur noch Schwarze in den überfüllten Innenstadtvierteln von Detroit. Weil die politischen Führer immer wieder Versprechungen nicht einhalten, spitzt sich die Situation im Sommer 1967 immer deutlicher zu. Es kommt zu Aufständen und Plünderungen, woraufhin die Stadtverantwortlichen mehr als 10.000 Soldaten zur Unterstützung anfordern, um die Situation wieder unter Kontrolle zu bringen. In der Nacht vom 25. auf den 26. Juli stürmen Polizisten und Soldaten das vornehmlich von Schwarzen bewohnte Algiers Motel, weil sie darin einen Scharfschützen vermuten, der kurz zuvor auf sie geschossen hat. Bei der Stürmung wird einer der Gäste durch Schüsse in den Rücken getötet. Während die Cops unter Führung des Streifenpolizisten Philip Krauss (Will Poulter) fieberhaft nach der vermeintlich irgendwo versteckten Waffe des Schützen suchen, um ihr Vorgehen rechtfertigen zu können, gerät die Situation immer weiter außer Kontrolle, bis es schließlich zu weiteren Toten kommt…
Die erste halbe Stunde von „Detroit“ ist schon in ihrem Ansatz absolut außergewöhnlich: In einer Aneinanderreihung von Vignetten, manche einige Minuten, andere nur wenige Sekunden lang, verfolgen wir das Hochkochen der Aufstände in Detroit – und zwar ohne einen echten Protagonisten, an den sich der Zuschauer klammern könnte. Bigelow und Boal entwerfen so das differenzierte und umfassende Bild eines mehrere Stadtviertel umfassenden Dampfkessels, in dem der große Knall unausweichlich ist. Die eingepferchten Bewohnern können gar nicht mehr anders, als ihr eigenes Viertel zu plündern und zu zerstören, auch wenn das ihren eigenen Interessen diametral widerspricht. Und selbst wenn ein Soldat mit seinem MG auf ein kleines Mädchen schießt, das hinter einer Gardine hervorlugt, kann man das zumindest nachvollziehen – immerhin wurden er und seine Kameraden von den Befehlshabern in eine Situation hineingeworfen, in der sie nicht nur überall mit Scharfschützen rechnen müssen, sondern derer sie in Anbetracht der hochgeschaukelten Emotionen und systemimmanenten Ungerechtigkeiten auch unmöglich Herr werden können. Gerade nach dem ganzen polemischen und populistischen Unfug, den man auch nach den G20-Randalen in Hamburg wieder von allen Seiten (in den sozialen Netzwerken) lesen musste, ist es erfrischend, dass sich Bigelow und Boal das System beziehungsweise die Gesellschaft vorknöpfen, statt auf einzelne Ordnungshüter oder Ladendiebe einzuprügeln.
Irgendwann verdichtet sich die Handlung dann schlagartig und der Film konzentriert sich ganz auf die Geschehnisse im Algiers Motel: Nahezu in Echtzeit vollziehen Bigelow und Boal nach, wie Krauss und seine Kollegen die Hotelgäste drangsalieren, um das Versteck der Waffe aus ihnen herauszubekommen – während die Cops immer mehr an der überfordernden Situation verzweifeln, bricht ihr ganzer angestauter Rassismus aus ihnen heraus. Diese pervers-fehlgeleitete Ausübung staatlicher Macht mit ansehen zu müssen, ist an sich schon extrem schmerzhaft. Aber auf einer rein mechanischen Ebene funktionieren die bewusst ausgewälzten Szenen zudem auch noch wie ein verdammt effektiver Home-Invasion-Horrorfilm mit Polizisten in der Rolle der brutalen Eindringlinge (gerade wenn die Cops einzelne Gäste aus dem Flur mit auf ein Zimmer nehmen, um dort das sogenannte „Todesspiel“ mit ihnen zu spielen). Die von Bigelow auch am Set oft stundenlang hochgehaltene Anspannung auf dem Hotelflur ist derart extrem, dass man den Schauspielern von Tätern und Opfern ihre Aussage sofort glaubt, dass sie sich jeden Morgen und Abend erst einmal in den Arm nehmen mussten, um sich rückzuversichern, dass sie außerhalb ihrer Rollen noch Freunde sind.
Will Poulter soll am Set sogar einmal weinend zusammengesackt sein, woraufhin der Drehtag beendet wurde – und tatsächlich spielt der „The Revenant“-Star den rassistischen Cop mit einer solch räudigen Ruchlosigkeit, dass man seine Gefühle nur zu gut nachvollziehen kann (auch wenn man seiner Figur im selben Moment einfach nur in die Fresse schlagen möchte). Zugleich ist dieser Philip Krauss aber auch die auffälligste Schwachstelle des Films: Im Gegensatz zu den meisten anderen Figuren des Films basiert er nicht auf einem bestimmten realen Vorbild, stattdessen wurde das Verhalten mehrerer rassistischer Cops in jener Nacht in seiner Figur zusammengefasst, was ihn nun zu einer Art Oberbösewicht macht. Das funktioniert rein dramaturgisch gesehen auch ganz hervorragend, aber plötzlich richtet sich all die hochgekochte Wut des Publikums doch wieder vornehmlich gegen eine einzelne (und dazu nicht einmal real existierende) Figur – ein unnötiger Rückschritt im Vergleich zum herausragend-ausdifferenzierten Auftakt des Films.
Fazit: Nach „The Hurt Locker“ und „Zero Dark Thirty“ liefern Kathryn Bigelow und Mark Boal auch mit „Detroit“ wieder präzise recherchiertes Politkino – aufbereitet als erschütternder, handwerklich brillanter Thriller, der in Sachen pure Intensität selbst die meisten Horrorfilme locker in die Tasche steckt und gerade nach den Ereignissen in Charlottesville erschreckend aktuell wirkt.