Die Autoren der öffentlich-rechtlichen Krimireihe „Tatort“ verarbeiten in ihren Drehbüchern gerne das aktuelle Zeitgeschehen: Allein im Jahr 2015 standen gleich drei verschiedene Folgen im Zeichen der europäischen Flüchtlingskrise. Im Hamburger „Tatort: Verbrannt“ starb ein zu Unrecht inhaftierter Asylbewerber einen qualvollen Flammentod in seiner Gewahrsamszelle, im Luzerner „Tatort: Schutzlos“ fahndeten die Schweizer Ermittler fieberhaft nach einer flüchtigen Afrikanerin, und im „Tatort: Kollaps“ gerieten die Kommissare in der Dortmunder Nordstadt mit integrationsunwilligen Dealern aus dem Senegal aneinander. Der SWR setzt mit seinem Stuttgarter „Tatort: Im gelobten Land“ noch einen drauf: Nicht weniger als 23 tote Flüchtlinge bringen die Kommissare aus dem „Ländle“ auf die Spur von Schleusern, die im großen Stil Menschen über die Grenzen schmuggeln und sich damit eine goldene Nase verdienen. Regisseur Züli Aladag („300 Worte Deutsch“) inszeniert eine spannende Kreuzung aus bitterem Schleuserdrama und emotionalem Geiselnahme-Thriller, die allerdings mit einigen Logiklöchern zu kämpfen hat.
Auf einem Parkplatz observieren die Stuttgarter Hauptkommissare Thorsten Lannert (Richy Müller) und Sebastian Bootz (Felix Klare) einen LKW, in dem Rauschgift lagern soll. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Ulmer (Christian Koerner) von der Drogenfahndung wollen sie Milan Kostic (Sascha Alexander Geršak) dingfest machen, den mutmaßlichen Mörder und Nachfolger eines Drogenbarons. Als sich stundenlang nichts tut, verliert Lannert die Geduld und öffnet die Tür zur Ladefläche. Ihm bietet sich ein Bild des Grauens: Im LKW entdeckt er 23 tote Flüchtlinge, die bei einem früheren Zugriff hätten gerettet werden können. Der Kommissar macht sich schwere Vorwürfe. Er jagt Kostic auf eigene Faust und verfolgt ihn bis in ein Flüchtlingsheim. Dort kann ihn der Schleuser mithilfe seiner Schwester Mitra (Edita Malovcic) überwältigen und hält Lannert gemeinsam mit der aus Afrika geflohenen Lela (Florence Kasumba) in seiner Gewalt. Während der Kommissar versucht, Kostic zur Aufgabe zu überreden, tastet sich sein Kollege Bootz mit einem SEK-Team von Zimmer zu Zimmer durchs Gebäude. Doch die Zeit läuft der Polizei davon: Ein neuer LKW ist unterwegs und weitere Menschen könnten zu Tode kommen, wenn der Wagen nicht rechtzeitig gefunden wird...
In Stuttgart zeigt die „Tatort“-Formkurve eindeutig nach oben: 2015 überzeugte das „Ländle“ nicht nur mit der Folge „Der Inder“, einer giftigen Abrechnung mit dem Bauprojekt „Stuttgart 21“, sondern vor allem mit „Preis des Lebens“, der besonders beim Publikum sehr großen Zuspruch fand. Regisseur Züli Aladag und Drehbuchautor Christian Jeltsch, der bereits zum zwölften Mal ein Skript für die Krimireihe beisteuert, setzen diese Erfolgsgeschichte fort: Auch „Im gelobten Land“ ist ein spannender Thriller, der bis in die Schlussminuten bestens unterhält. Ein Wiedersehen gibt es dabei mit „Tatort“-Stammgast Florence Kasumba („Transpapa“): Die dunkelhäutige Schauspielerin und Musicaldarstellerin war unter anderem 2011 im Bremer „Tatort: Der illegale Tod“ zu sehen, in dem sich die Filmemacher bereits Jahre vor dem drastischen Anstieg der Flüchtlingsströme mit illegalen Einwanderern und Flüchtlingsbooten im Mittelmeer beschäftigten. Weil Assistentin Nika Banovic (Mimi Fiedler) überraschend fehlt, werden Lannert und Bootz diesmal nur von Staatsanwältin Emilia Alvarez (Carolina Vera) und Gerichtsmediziner Dr. Vogt (Jürgen Hartmann) unterstützt, der seine klugen Literaturzitate allerdings stecken lässt.
Nach einer kurzen Einleitung unter freiem Himmel entspinnen die Filmemacher in der Stuttgarter Flüchtlingsunterkunft ein packendes Kammerspiel, das von Minute zu Minute an Fahrt gewinnt und dem Zuschauer nur wenig Zeit für Verschnaufpausen lässt. War es in der vorherigen Folge „Preis des Lebens“ noch Ex-Familienvater Bootz, der nach der Entführung seiner Tochter im Brennpunkt des Geschehens stand, prägt „Im gelobten Land“ Lannerts Alleingang, mit dem der Kommissar den folgenschweren Patzer bei der Parkplatz-Observierung wieder gut machen will. Das dramaturgische Herzstück des Krimis bildet seine Konfrontation mit Kostic: Minutenlang richten Kommissar und Schleuser die Waffe aufeinander, ohne dass einer der beiden den Abzug drücken würde. Anders als in „Tschiller: Off Duty“, mit dem „Tatort“-Kollege Til Schweiger gerade an den Kinokassen Schiffbruch erleidet, bricht sich die Gewalt nur selten Bahn: Während der impulsive Kostic (stark: Sascha Alexander Geršak, „Wir waren Könige“) regelmäßig von seiner abgebrühten Schwester Mitra (eiskalt: Edita Malovcic, „Blutgletscher“) eingefangen wird, mahnt Lannert sich selbst zur Besonnenheit. Trotz des SEK-Einsatzes im Gebäude ist der 976. „Tatort“ eher ein fiebriges Psychoduell als ein Actionthriller.
Der Spannung tut das keinen Abbruch: Spätestens mit der nahenden Ankunft des zweiten LKW entwickelt sich der 18. „Tatort“-Einsatz von Lannert und Bootz zu einem Wettlauf gegen die Zeit. Als klassische Whodunit-Konstruktion zum Miträtseln funktioniert der Film allerdings nicht: Früh wird deutlich, dass es nicht Kostic ist, der den ohnehin nur am Rande erwähnten Stuttgarter Drogenkönig Ahmed Bashir auf dem Gewissen hat, weil der Zuschauer mehrfach einer unbekannten Person über die Schulter blickt. Dass dieser beim Showdown vorm Flüchtlingsheim eine besondere Rolle zukommt, ist einem dicken Logikloch zu verdanken: Das SEK-Team platziert auf den umliegenden Dächern Scharfschützen – übersieht dabei aber, das sich auf einem weiteren Dach minutenlang eine vermummte Person postiert. Ebenso schlampig durchsuchen die Beamten die Zimmer im Flüchtlingsheim: Bei genauerem Hinsehen auf der Suche nach Kostic und Lannert hätte die Handlung sicher einen anderen Verlauf genommen. Angesichts des hohen Unterhaltungswerts sind Schönheitsfehler wie diese aber zu verkraften – und dem Realitätsabgleich hat die Krimireihe bisher ohnehin nur selten standgehalten.
Fazit: Regisseur Züli Aladag knüpft mit seinem spannenden Stuttgarter „Tatort: Im gelobten Land“ nahtlos an die zuletzt stets überzeugenden Krimis aus dem „Ländle“ an.