Studio Ghibli. Allein dieser Name lässt das Herz von Animationsliebhabern höher schlagen. Vor allem für die Filme von Hayao Miyazaki („Chihiros Reise ins Zauberland“) und Isao Takahata („Die letzten Glühwürmchen“) ist das japanische Studio bekannt - und letzterer fungiert im Rahmen einer ungewöhnlichen japanisch-holländischen Partnerschaft nun auch als Co-Produzent des experimentellen Animationsabenteuers „Die rote Schildkröte“. Fast zehn Jahre lang arbeitete Michael Dudok de Wit an seinem ersten Langfilm, wobei man diesem deutlich anmerkt, dass der Regisseur vorher nur Kurzfilme gemacht hat (und für „Father And Daughter“ 2001 sogar einen Oscar gewann). Trotz einer Laufzeit von nur 80 Minuten ist „Die rote Schildkröte“ trotz atmosphärischer Stärken inhaltlich nämlich eher dünn. Die moderne Robinsonade, in die sich zunehmend auch fantastische wie märchenhafte Motive schleichen, lebt stattdessen vor allem von ihrem außergewöhnlichen visuellen Stil.
Ein Mann wird an den Strand einer einsamen Insel geschwemmt. Anderes menschliches Leben gibt es auf dem Eiland nicht, Fluchtversuche per Floß werden immer wieder von einer großen roten Schildkröte zunichte gemacht. Als die Schildkröte einmal an den Strand geschwemmt wird, erschlägt der Mann sie in seiner Wut und bereut seine Tat sogleich. Aber aus dem Panzer des Wesens schlüpft eine Frau. Gemeinsam verbringen sie die Jahre, bekommen ein Kind und überstehen allerlei Unwetterkatastrophen…
Was als klassisches Überlebensabenteuer in der Tradition von Daniel Defoes „Robinson Crusoe“ beginnt, entpuppt sich spätestens mit der unerklärten Verwandlung der Schildkröte als Märchen: geprägt von magischem Realismus, unverhohlen allegorisch und auch ein bisschen kitschig. Immer wieder schwillt die Musik zu bombastischen Höhen an, schluchzen die Choräle, wenn einmal mehr ein Unglück das Leben des Mannes und seiner Kleinfamilie bedroht. So naturalistisch die Geschichte auch beginnt: Man muss den Wechsel zum magischen, zum fantastischen mitgehen, um de Wits Magnum Opus mögen zu können. Aber die Grenze zwischen poetisch und einfältig ist oft schmal und nicht immer überzeugt de Wits Hang zum Pathos, nicht immer zwingend wirken die allegorischen Dimensionen der Geschichte.
Mit ihrer offenen Erzählweise lädt „Die rote Schildkröte“ zu vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten ein. So lässt sich das Paar etwa problemlos als Adam und Eva begreifen, das in einem abgelegen Paradies ein lange Zeit glückliches Leben führt. Zugleich birgt der Film mit seiner Verschmelzung von Mensch und Natur aber auch die Hoffnung auf ein harmonisches Zusammenleben aller Elemente der Welt. Eine Haltung, die de Wit erst Recht in die Nähe des Studio Ghibli bringt, wobei der Einfluss der japanischen Vorbilder aber vor allem visuell zu spüren ist: „Die rote Schildkröte“ ist kein computergenerierter Animationsfilm, wie ihn Hollywood inzwischen nahezu im Wochentakt ausspuckt. Stattdessen ist hier noch (fast) alles handgemacht – man erkennt sofort, dass tatsächlich jeder Baum, jede Krabbe, jede Schildkröte einzeln gezeichnet wurde.
Wie lebendig gewordene Aquarelle wirken die Bilder - das weite Meer, die Bambuswälder, die Höhlen der Insel. So perfekt und aufwändig, so makellos und rasant moderne Animationsfilme wirken, so bedächtig, behutsam, ja, im besten Sinne altmodisch wirken die Bilder hier. Natürlich strotzen auch die meisten Pixar-Filme vor visueller Originalität, doch ein Film wie „Die rote Schildkröte“ zeigt einmal mehr, wie sehr die Art seiner Herstellung auch auf seinen Inhalt, seine Geschichte, seine Haltung Einfluss nimmt. Die Balance auf dem Grat zwischen Magie und Kitsch, zwischen Poesie und Pathos hält Michael Dudok de Wit zwar nicht immer erfolgreich, aber etwas ganz Besonderes ist sein Film dennoch ohne Frage.
Fazit: In seinem ersten Langfilm „Die rote Schildkröte“ erzählt der bereits oscarprämierte Michael Dudok de Wit eine Variation der Robinsonade, die er mit magischen, fantastischen Elementen überhöht. Was inhaltlich ein wenig dünn wirkt, wird durch die klassische, weitestgehend handgemachte Animationstechnik zu einer wahren Augenweide, die auch über manch kitschige oder pathetische Passage hinwegsehen lässt.