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    Lieber leben
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Lieber leben
    Von Andreas Staben

    Als der gelähmte Protagonist des Krankenhausdramas „Lieber leben“ in eine Rehaklinik verlegt wird, freut sich seine Mutter, dass er dort immerhin eine Aussicht habe. Sie klammert sich an den tröstenden Gedanken und wiederholt ihn mehrmals, bis ihr bewusst wird, dass ihr fast komplett bewegungsunfähiger Sohn von seinem Bett aus gar nicht aus dem Fenster sehen kann. Es sind kleine Szenen wie diese, die diesem Film eine besondere Prägnanz geben: Mit „Lieber leben“ verarbeitet der bekannte französische Rapper Grand Corps Malade (der Künstlername heißt übersetzt Großer Kranker Körper) seine eigene Krankheitsgeschichte nun auch filmisch – und gerade diese persönliche Erfahrung prägt den Film nachhaltig. Vor allem in der unsentimentalen ersten Hälfte bietet das Drama, das der Musiker gemeinsam mit Mehdi Idir auch selbst inszeniert hat, ein beeindruckendes Porträt einer lebensumwälzenden Veränderung und des schwierigen durch sie ausgelösten Anpassungsprozesses. Statt großer Gesten gibt es kleine Schritte, statt ausgewalzter Krisen selbstironischen Humor und „angepasste Hoffnung“.

    Nach einem Unfall im Freibad erwacht der Teenager Ben (Pablo Pauly) im Krankenhaus. Er hat eine inkomplette Tetraplegie davongetragen. Durch die Lähmung aller Gliedmaßen ist er bei jeder alltäglichen Verrichtung auf Hilfe angewiesen, doch die meisten Nerven sind nicht irreparabel beschädigt. Nach einigen Wochen kommt er von der Intensivstation in ein Rehabilitationszentrum. Dort stürzt sich der talentierte Basketballer, der immer noch davon träumt, Sportlehrer zu werden, in die Übungen mit seinem Bewegungstherapeuten François (Yannick Renier). Um jede kleine Regung eines Fingers muss er hart kämpfen. Er freundet sich mit einigen Leidensgenossen an, darunter Toussaint (Moussa Mansaly), Steeve (Franck Falise) und Farid (Soufiane Guerrab), der bereits seit früher Kindheit gelähmt ist. Gemeinsam helfen sie sich durch das Wechselbad aus Hoffnung und Ohnmacht, kleinen Erfolgserlebnissen und großen Rückschlägen. Und dann ist da auch noch Samia (Nailia Harzoune), eine Mitpatientin, zu der Ben sich hingezogen fühlt…

    „Lieber leben“ beginnt mit einer langen aus subjektiver Perspektive gefilmten Sequenz, die das Gefühl der Bewegungsunfähigkeit für den Betrachter erfahrbar macht: Wie der erst auf einer Bahre und dann im Krankenhausbett liegende Ben sehen wir minutenlang vor allem Zimmerdecken und Lampen, nur gelegentlich schieben sich Gesichter ins Blickfeld. Das ist hier zwar nicht ganz so extrem wie bei Julian Schnabels „Schmetterling und Taucherglocke“ (dort ging es um das Locked-In-Syndrom), aber gerade weil Grand Corps Malade und Mehdi Idir das ganz nüchtern und ohne inszenatorischen Schnickschnack präsentieren, ist dieser Auftakt umso aufwühlender. Anschließend gehen sie über weite Strecken mit einer verblüffenden Leichtigkeit an das vermeintlich schwere Thema heran. Wenn etwa der pathologisch gutgelaunte Pfleger Jean-Marie (Alban Ivanov) erstmals in Bens Zimmer tritt, überrollt er ihn förmlich mit seiner betonten Fröhlichkeit. Er kommentiert jeden seiner Handgriffe und redet ihn immer in der dritten Person an („Ich schalte ihm den Fernseher ein“). Das ist einerseits amüsant, andererseits kann Ben dem Gute-Laune-Orkan nicht ausweichen, egal wie er sich fühlt und wie sehr ihn das gerade nervt.

    Alltägliche Frustrationen - von der langwierigen Darmentleerung bis zur überwältigenden Anstrengung, einen Salzstreuer zu bewegen - gehören hier zur Normalität. Der Film heißt im Original passenderweise „Patients“, also „Patienten“, „patient“ bedeutet aber zugleich auch „geduldig“. Und Geduld ist das Wichtigste, was Ben und die anderen hier lernen müssen. Sie erfahren die Tage und Stunden als bleiern und unendlich lang, sie suchen immer nach sinnvollen und möglichst angenehmen Beschäftigungen, um „die Zeit zu ficken“, wie sie es nennen. Sie passen auch ihre Hoffnungen und Erwartungen an die Situation an, was in einer schwungvoll-ironischen Montagesequenz zum Rapsong „Espoir adapté“ von Grand Corps Malade treffend zum Ausdruck gebracht wird. So ist es etwa eine regelrecht euphorisierende Erfahrung, wenn Ben in einer der schönsten Szenen des Films endlich das Bett verlassen und einen elektrischen Rollstuhl verwenden kann. Was wir uns als schreckliche Einschränkung vorstellen, bedeutet für ihn in diesem Moment eine ungeheure Freiheit (und auch die Kamera ist von nun an mobiler).

    Die teilweise fast impressionistische erste Filmstunde bietet einen recht ungewöhnlichen Einblick in die Erlebniswelt von Langzeitpatienten. Wenn Ben dann mehr und mehr auch in das Gemeinschaftsleben der Klinik eintaucht, wird die Erzählweise allerdings zunehmend konventioneller. Es gibt nun neue Figuren und eine deutlicher ausgeprägte klassische Dramaturgie. Die Rückschläge, Konflikte und Nebenhandlungen geraten dabei nicht immer überzeugend und wirken teilweise ein bisschen aufgesetzt. Die sehr natürlich rüberkommenden Darsteller sorgen zwar dafür, dass etwa ein Subplot um eine Schussverletzung oder auch Bens Fast-Romanze mit Samia nicht ins Klischee abdriften, dennoch wird aus der ungewöhnlichen Kinoerfahrung „Lieber Leben“ in der zweiten Hälfte immer mehr ein ganz normaler Film.

    Fazit: „Lieber leben“ ist vor allem in der ersten Hälfte ein ebenso ungewöhnliches wie sehenswertes Drama über einen Gelähmten und seinen langwierigen Kampf um Genesung.

    „Lieber leben“ ist der Abschlussfilm der 17. Französischen Filmwoche Berlin. Am 6. Dezember ist er dort noch einmal zu sehen, ehe er am 14. Dezember 2017 regulär in die deutschen Kinos kommt.

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