Nach dem gewaltsamen Tod ihres französischen Goldgräber-Vaters und ersten Statistenauftritten auf der Bühne dreht sich die knabenhafte Amerikanerin Loïe Fuller (Musikerin und Kristen-Stewart-Ex Soko) im ersten Drittel von „Die Tänzerin“ wild im Kreis und bastelt nebenher an ihrem Kostüm, dem sie unter anderem Taschen annäht, in die sich ihre Arme verlängernde Holzstäbe stecken lassen. Ein Zuschauer, der mit dem Werk der ab 1892 im legendären Pariser Varietétheater Folies Bergère auftretenden Tänzerin nicht vertraut ist, fragt sich bis hierher zwangsläufig, was das denn nun bitte mit Kunst zu tun haben soll? Aber dann folgt der erste Solo-Auftritt: Wenn die inzwischen nach Paris ausgewanderte Performerin bis zur totalen Erschöpfung auf der Bühne herumwirbelt, die kiloschweren Stofflagen mit ihren austrainierten Armen herumschleudert und dabei von verschiedenfarbigen Scheinwerfern angeleuchtet wird, dann erinnert sie tatsächlich an einen Schmetterling. Loïe Fuller hat als Choreographin den modernen Tanz mitbegründet und als Erfinderin die ersten Bühnen-Lichtshows entworfen – aber diese künstlerischen Errungenschaften interessieren Regisseurin Stéphanie Di Giusto in ihrem Biopic nur peripher.
Dabei sind die zwei zentralen Performances (eine im Folies Bergère, eine in der Pariser Oper) atemberaubend gefilmt. Dazu begeistert Soko („Maurice“) in der Rolle der sich bis zur völligen Selbstaufgabe reinsteigernden Tänzerin, die auch nach ihren Auftritten, bei denen ihr Gesicht vom wirbelnden Kostüm verdeckt wird, sich nie dem Publikum zeigt, um den Mythos des Tanzes nicht zu zerstören. Aber abgesehen davon fällt es schwer, sich nur aus dem Film heraus ein umfassenderes Bild von der Karriere oder der Kunst Fullers zu machen. Stattdessen legt Di Gusto ein starkes Augenmerk auf die Sexualität ihrer Protagonistin: Von ihrem jungenhaften Cowboy-Auftreten während des Goldrausches über ein erstes Nacktfoto-Casting, nach dem sie den Fotografen fragt, ob er sie denn nun vergewaltigen wird … und sich dann von ihm - selbst immer noch in einer halben Ritterrüstung steckend – entjungfern lässt.
In der zweiten Hälfte nimmt Fuller schließlich die blutjunge, elfenhafte Isadora Duncan (Lily-Rose Melody Depp) unter ihre Fittiche – auch aus sexueller Sehnsucht. Allerdings nutzt Duncan die Verliebtheit ihrer Mentorin schamlos aus. Das Machtspiel der beiden hätte eigentlich der emotionale Höhepunkt werden sollen, aber der fällt aus. Denn schauspielerisch lässt sich wirklich nicht von einem gleichwertigen Duell sprechen: Die Tochter von „Fluch der Karibik“-Star Johnny Depp und der französischen Sängerin Vanessa Paradis sieht in ihren Tanzposen tatsächlich anbetungswürdig-grazil aus, aber sobald sie als Isadora den Mund aufmacht und wie im Schultheater emotionslos ihre Sätze runterrattert, ist es mit der Magie auch sofort wieder dahin.
Fazit: Nicht ganz rundes Biopic mit einer tollen Hauptdarstellerin.
Wir haben „Die Tänzerin“ im Rahmen der 69. Filmfestspiele von Cannes gesehen, wo der Film in der Reihe Un Certain Regard gezeigt wurde.