Hape Kerkeling war schon als Kind ein Knaller
Von Carsten BaumgardtDem Sprichwort nach soll man ja aufhören, wenn es am schönsten ist. Aber das gelingt den wenigsten Stars des Showgeschäfts – zu groß sind oft die Eitelkeiten, zu mächtig ist die Gier nach Applaus, zu verlockend das nächste Angebot. Eine rühmliche Ausnahme bildet da Hans-Peter „Hape“ Kerkeling. Der Entertainer und Multikünstler ließ sich vom ZDF eine pompöse Gala zu seinem 50. Geburtstag ausrichten und öffentlich feiern – und kündigte dann seinen Abschied von der großen Bühne an, auf der er so viele Triumphe gefeiert hat. Der gebürtige Recklinghausener hatte alles gemacht und alles erreicht. Der Schlüssel zu Kerkelings riesigem Erfolg als Grande der deutschen Fernsehunterhaltung liegt in seiner ereignisreichen Kindheit, der er folgerichtig auch den größten Teil in seiner Autobiografie „Der Junge muss an die frische Luft“ gewidmet hat. In dieser Zeit mit der Depression und schließlich dem Suizid seiner Mutter tun sich immer wieder Abgründe auf, die der lebenslustige Junge mit Humor zu kompensieren versucht, um emotional zu überleben. „Nirgendwo in Afrika“-Regisseurin Caroline Link verfilmt Kerkelings Buch, das fast 20 Wochen auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste stand, als vor Herz und Esprit sprühende Tragikomödie über den Alltag einer fast ganz normalen Mittelklassefamilie.
1972: Die Familie Kerkeling gehört zur Mittelschicht im Ruhrpott. Vater Heinz (Sönke Möhring) und seine Frau Margret (Luise Heyer) ziehen mit ihren Kindern Hans-Peter (Julius Weckauf) und Matthes (Jan Lindner) vom Land ins Haus der Großeltern Änne (Hedi Kriegeskotte) und Willi (Joachim Król) ins vorstädtische Recklinghausen. Der etwas pummelige, aber fröhliche Hans-Peter versucht, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden, obwohl er von seinen Mitschülern gelegentlich wegen seines Übergewichts gehänselt wird. Schon in Alter von neun Jahren schlummert in dem Jungen der unbedingte Drang, sich komödiantisch auszudrücken. Auf feuchtfröhlichen Familienfeiern verkleidet sich Hans-Peter und trägt Parodien von Sängern und Schauspielern für die beschwipst-grölende Verwandtschaft vor. In seiner Mitschülerin Sabine (Finja Junietz) findet er eine gute Freundin. Nur Mutter Margret bereitet der gesamten Familie immer mehr Sorgen. Nach einer Operation wegen einer chronischen Kieferhöhlenentzündung verliert sie nicht nur ihren Geruchs- und Geschmackssinn, sondern nach und nach auch ihren Lebenswillen...
In seiner rund eine Millionen Mal verkauften Autobiografie „Der Junge muss an die frische Luft“ kreist Hape Kerkeling in 19 Kapiteln, die sich nicht nur mit seiner Kindheit, sondern auch schon mit ersten Ausflügen ins Showgeschäft befassen, um den markerschütternden Suizid seiner geliebten Mutter. Obwohl Regisseurin Caroline Link („Im Winter ein Jahr“, „Exit Marrakech“) diese schwierige Situation ebenso wie den Tod von Großmutter Änne nicht verschweigt, sind das nur wichtige Etappen, aber nicht das zentrale Thema von „Der Junge muss an die frische Luft“. Link geht es vielmehr darum, das Milieu zu schildern, in dem Hape Kerkeling zu dem erwachsen konnte, was er später war: ein Entertainer, der Millionen vor den Bildschirmen oder auf der Bühne in seinen Bann ziehen konnte. Der Schlüssel liegt einerseits im Charakter Kerkelings, aber vor allem in seiner herzlichen und liebevollen Familie, die trotz größter Krisen und vielen Schicksalsschlägen nie den Humor und die Wärme gegenüber Hans-Peter und seinem Bruder Matthes verlor.
Wenn man so will, ist „Der Junge muss an die frische Luft“ ein Prequel zu Julia von Heinz‘ großem Kino-Erfolg „Ich bin dann mal weg“ (zwei Millionen Besucher in Deutschland), der von Hape Kerkelings Auszeit-Erlebnissen auf seiner Pilgerreise auf dem Jakobsweg handelt. Dort war der Zugang zur Hauptfigur einfach, weil jeder Kerkeling vom Bildschirm kannte (selbst, wenn der plötzlich wie Devid Striesow aussah). Aber bei „Der Junge muss an die frische Luft“ stand natürlich die bange Frage im Raum: Schafft es ein solch junger Schauspielneuling tatsächlich, einen Film dieser Größe zu schultern? Aber die Antwort lautet schlicht und einfach Ja! Und wie! Der zum Zeitpunkt des Drehs neun Jahre alte Debütant Julius Weckauf ist eine Wucht als kleiner Hans-Peter Kerkeling. Das ist unglaublich wichtig für den Film. Der Junge beherrscht den rheinischen Dialekt auf natürliche Art und schlägt sich bravourös an der Seite von gestandenen Schauspielern wie Joachim Król („Der bewegte Mann“), Luise Heyer („Dark“) und Sönke Möhring („Inglourious Basterds“). Während um ihn herum die kleinen und großen Katastrophen geschehen, sucht Hans-Peter per Überlebensreflex die Flucht in den Humor.
„Der Junge muss an die frische Luft“ lebt weniger von einer aufsehenerregenden Handlung, denn das, was bei den Kerkelings passiert, ist eben Alltag wie in vielen anderen Familien des Ruhrpotts in den frühen 70er Jahren. Krankheiten, Zankereien, ein abwesender Vater – das sind alles keine Paradethemen für Lustspiele, aber Caroline Link gelingt es, auch in den größten Krisen stets eine unglaubliche Menge Wärme und Herzlichkeit von ihren Figuren auf das Publikum zu übertragen. Es ist also das „Wie“, das den Film so unterhaltsam macht – eingebettet in ein stimmiges, sorgsam ausgestattetes 70er-Jahre-Setting. Wenn zum Beispiel auf einem Höhepunkt der emotionalen Niedergeschlagenheit die Welt unter Hans-Peter zusammenzubrechen droht, schnappt sich sein „Oppa“ Willi den Jungen und fährt mit ihm in den Wanderurlaub nach Österreich. „Der Junge muss an die frische Luft“, meint er. Was in der Realität banal sein mag, hat im Film etwas zutiefst Menschliches. Von diesen Momenten lebt die Tragikomödie. Es geht um Zusammenhalt in der Familie – so lässt sich alles überwinden, das ist die Botschaft.
Damit es noch mehr zu lachen gibt, verteilt Caroline Link nebenbei kleine Seitenhiebe auf die Mittelklasse-Gesellschaft der 70er Jahre, wo Klatsch und Tratsch in der Nachbarschaft ganz groß waren. Da wird zum Beispiel über die umtriebige Frau Kolossa (Diana Amft) geschwätzt und haarklein seziert, wie es um ihren Männerverschleiß steht. Und da darf dann auch wieder Julius Weckauf brillieren: Wie er hier seine Mitmenschen nachmacht, persifliert und parodiert ist ganz großes Kino – da würde es uns nicht wundern, wenn er in den nächsten Jahren ebenfalls eine ähnlich steile Karriere wie der junge Hape Kerkeling hinlegt.
Fazit: „Der Junge muss an die frische Luft“ ist eine ebenso humorvolle wie herzliche Tragikomödie über die bewegte Kindheit des späteren Comedy-Superstars Hape Kerkeling.