In „Unter dem Sand“, einem der bekanntesten Filme von Regisseur François Ozon („8 Frauen“, „Swimming Pool“), klammert sich Charlotte Ramplings Hauptfigur auch nach einem Leichenfund an den Gedanken, dass ihr am Strand verschwundener Ehemann doch nicht tot ist. Der Abwesende bestimmt wie ein Phantom weiterhin ihr Leben. Auf bewegende Weise erzählt der Filmemacher besonders in diesem Film von der starken Macht, die Wunschvorstellungen besitzen können, und auch von der trügerischen, zugleich tröstlichen Natur unserer Erinnerungen – Themen, die sich durch Ozons gesamtes Werk ziehen. Nun gibt er ihnen in seinem mehrheitlich in Deutschland entstandenen und spielenden Historiendrama „Frantz“ erstmals auch eine kollektive Dimension: Das schwierige deutsch-französische Verhältnis unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg bildet den Hintergrund für die vielschichtige Geschichte einer jungen Frau und eines verlorenen Fremden auf der Suche nach sich selbst.
Quedlinburg, 1919. Der Erste Weltkrieg ist gerade vorüber, auch die Kleinstadt im Harz ist von Verlust und Niederlage gezeichnet. Die junge Anna (Paula Beer) befindet sich in tiefer Trauer und besucht jeden Tag das Grab ihres in der Schlacht gefallenen Verlobten Frantz (Anton von Lucke). Dessen Eltern, Dr. Hoffmeister (Ernst Stötzner) und Frau Magda (Marie Gruber), bei denen sie weiterhin lebt, ermutigen Anna, den Heiratsantrag von Kreutz (Johann von Bülow) anzunehmen. Mit ihm könne sie ein neues Leben anfangen. Eines Tages bemerkt sie auf dem Friedhof dann allerdings einen Fremden (Pierre Niney), der auf dem Gedenkstein für Frantz eine Blume hinterlässt. Als Anna den Unbekannten anspricht, stellt er sich als Adrien vor: Er sei schon vor dem Krieg in Paris ein guter Freund von Frantz gewesen. Die Anwesenheit des Franzosen sorgt schon bald für große Aufregung im Ort…
„Frantz“ beruht frei auf Motiven von Ernst Lubitschs pazifistischem Drama „The Man I Killed – Der Mann, den sein Gewissen trieb“ von 1932, doch während der Komödienmeister in einem seiner wenigen rein ernsten Filme gleich am Anfang das Geheimnis des Franzosen offenbart und eine geradlinige Geschichte über Schuld und Vergebung, Feindschaft und Versöhnung beginnt, entscheidet sich Ozon für eine Erzählung voller Ungewissheiten und Rätsel. Dem bewegenden Appell zur Völkerverständigung bei Lubitsch setzt er dabei ein deutlich ambivalenteres Bild menschlicher Beziehungen entgegen. Nicht nur wenn die Kneipenrunde um Kreutz das anti-französische „Die Wacht am Rhein“ anstimmt, gehen Verblendung und Trauer bei ihm eine unheilige Allianz ein. Auch wenn in Paris in einem Bistro gleichsam als Echo zur Szene in Quedlinburg die „Marseillaise“ gesungen wird - die Deutsche Anna sitzt unerkannt und beklommen mittendrin -, hört man bei Ozon viel deutlicher die blutigen Einzelheiten des martialischen Texts als den emanzipatorischen Schwung der universal verständlichen Freiheitshymne (der etwa die entsprechende berühmte Szene in „Casablanca“ so prägt).
Auch in die Szenen mit Adrien und Frantz‘ Familie mischt François Ozon leise Zweifel und irritierende Untertöne. In den Erzählungen des Gastes über die gemeinsame Zeit mit dem Gefallenen schwingt noch etwas anderes als nur freundschaftliche Zuneigung mit und wenn er Anna schließlich die Wahrheit beichtet, dann wirft das noch einmal ein gänzlich anderes Licht auf alles, was vorher geschehen ist. So ist auch „Frantz“ (die ungewöhnliche Schreibweise entspricht übrigens einem von Franzosen recht häufig gemachten Fehler) ein Film über (Selbst-)Täuschungen. Wie bei dem Gemälde von Edouard Manet, das im Film eine wichtige Rolle spielt, kommt es auf die Perspektive an (der Titel des Bildes ist bereits ein Spoiler, weshalb wir ihn hier nicht nennen): Um sich das schwere Leben etwas zu erleichtern, werden unbequeme Wahrheiten ausgeklammert oder beschönigt. Für Frantz‘ Eltern rückt der vermeintliche Erzfeind bald an Sohnes statt, Anna hegt trotz der Umstände womöglich romantische Gefühle für den schicken Franzosen und Adrien gibt sich gerne den Illusionen der anderen hin.
Das alles präsentiert uns Ozon nicht als emotional hochgekochtes Melodram, sondern als fast etwas didaktischen Bildungsroman auf kleiner Flamme. In nüchternem Schwarzweiß hält er die Gefühle im Zaum und wenn er für einige Erinnerungen und ein fast unwirkliches von romantischer Musik begleitetes Idyll am See zum Farbfilm wechselt, ist einem der plötzliche Überschwang fast schon unheimlich. Denn „Frantz“ ist ein sehr rationaler Film über die Macht der Gefühle, in dem von den Figuren letztlich nur Anna, die gar nicht so heimliche Protagonistin, einen einigermaßen klaren Kopf behält. Sie erinnert in ihrem verzwickten Eigensinn durchaus an andere Ozon-Heldinnen und grenzt sich auch durch Paula Beers („4 Könige“, „Das finstere Tal“) Natürlichkeit etwa von Pierre Nineys („Yves Saint-Laurent“) Leidens-Pokerface ab. Neben Beer sorgen vor allem Ernst Stötzner („Was bleibt“) und Marie Gruber („Das kalte Herz“) mit ihren bewegenden Darstellungen dafür, dass aus dem ideenlastigen Stoff kein dröges Lehrstück wird, sondern ein faszinierender weiterer Eintrag in der sehr abwechslungsreichen und doch auch homogenen Filmografie eines Regisseurs, der das europäische Kino nun schon seit fast zwei Jahrzehnten mitprägt.
Fazit: Ein thematisch und motivisch reichhaltiges sowie in den Schlüsselrollen weitgehend exzellent gespieltes, aber letztendlich auch etwas unterkühltes Drama.