Michael Bay ohne CGI? Richtig geiler Scheiß!
Von Christoph PetersenWas passiert, wenn ein bescheiden budgetiertes Echtzeit-Kammerspiel aus Dänemark, das 80 Minuten lang fast ausschließlich im Inneren eines Krankenwagens spielt, ausgerechnet Krawall-Spezi Michael Bay in die Hände fällt? Na klar, er macht daraus einen an purer Bildgewalt kaum zu übertreffenden Action-Kracher, in dem die Kamera stolze 135 Minuten lang dermaßen vogelwild durch die Straßen von Los Angeles wirbelt, wie man es sonst allenfalls von gewissen Mega-Blockbustern mit riesigen außerirdischen Auto-Robotern gewöhnt ist. Und trotzdem: Es ist einfach eine Freude zu sehen, wozu der „Transformers“-Regisseur inszenatorisch fähig ist, wenn er den ganzen CGI-Schmarrn seiner vorherigen Produktionen einfach mal beiseitelässt. „Ambulance“ entwickelt sich nach einer Mini-Einführung zu einem einzigen elektrisierenden Dauer-Showdown, in dem ausgerechnet der Regie-Patriot Nr. 1 mit dem amerikanischen Traum abrechnet.
Afghanistan-Veteran Will Sharp (Yahya Abdul-Mateen II) braucht dringend Geld für eine experimentelle Operation seiner Frau Amy (Moses Ingram). Aber als er seinen älteren Bruder Danny (Jake Gyllenhaal) um ein Darlehen bittet, wird er stattdessen direkt in einen 32-Millionen-Dollar-Bankraub hineingezogen. Doch der Überfall geht schief. Will und Danny können zwar in einem Krankenwagen aus dem Parkhaus der Bank fliehen, allerdings sind die Geschwister nicht allein in dem Auto: Die Sanitäterin Cam Thompson (Eiza González) tut gerade alles, um dem angeschossenen Streifenpolizisten Zach (Jackson White) das Leben zu retten. Während die Gangster sich eine turbulente Verfolgungsjagd mit den Cops liefern, muss Cam hinten im Wagen bei voller Fahrt die Kugel herausoperieren, obwohl sie so etwas auch unter idealen Bedingungen noch nie zuvor getan hat…
Will (Yahya Abdul-Mateen II) und Danny (Jake Gyllenhaal) sitzen im Krankenwagen fest, während die Kamera draußen völlig freidreht.
Laurits Munch-Petersens „Ambulance - Rette sich, wer kann!“ aus dem Jahr 2005 mutet visuell eher an wie ein Kleines Fernsehspiel – und dreht sich zentral um das moralische Dilemma der Bankraub-Brüder, ob sie nun ihrer eigenen Mutter oder dem sterbenden Mann hinten im Krankenwagen das Leben retten sollen. Aber Michael Bay übernimmt sowieso kaum mehr als die Prämisse und pfeift zudem auf die zurückhaltende Reduktion des dänischen Originals: In den 135 Minuten seines atemlosen Action-Festes gleitet die ruhelose Kamera von Roberto De Angelis gefühlt an jeder einzelnen Häuserfassade von Los Angeles herauf und herunter. In den Außenaufnahmen ist die freischwebend-herumwirbelnde Kamera wie ein eigener Charakter, der sich manchmal auch einfach nur mit sich selbst beschäftigt, bevor er zum eigentlichen Geschehen zurückkehrt.
Im Inneren des Krankenwagens geht sie hingegen oft so nah an die Protagonist*innen heran, dass man meint, die Kamera wollen ihnen bis hinein in die Nasenlöcher kriechen – oder eben mit in den aufgeschnittenen Torso des angeschossenen Polizisten, in dessen Eingeweiden Cam mit beiden Händen herumwühlen muss, um die Kugel zu finden. Hilfe bekommt sei dabei per Zoom-Call von zwei Chirurgen, die ihre Zeit – wie sollte es auch anders sein – gerade auf dem Golfcourt verbringen. „Ambulance“ ist trotz seiner Absurdität kein komödiantischer Film – und trotzdem sitzen die Gags, was bei Michael Bay, bei dem die Pointen ja auch gerne mal platt bis peinlich ausfallen, nun wahrlich nicht die Regel ist. Aber sowohl die selbstironische Anspielung auf seinen Action-Kulthit „The Rock - Fels der Entscheidung“, den aber niemand mehr kennt, seitdem Dwayne Johnson den Titel „The Rock“ für sich gepachtet hat, als auch ein Corona-Gag mit Gehstock im Fahrstuhl sind echt lustig.
Eine wirklich starke Frauenrolle in einem Film von Michael Bay? Es geschehen tatsächlich noch Zeichen und Wunder...
Lange Zeit sterben angesichts der vielen Kugeln und Karambolagen erstaunlich wenig Menschen. Aber dann schnellt der Bodycount im letzten Drittel doch noch steil nach oben – und „Ambulance“ wird auf der Ziellinie nicht nur überraschend düster, sondern entwickelt sich regelrecht zur griechischen Tragödie, bei der man sich sicher sein darf, dass sich Michael Bay auch mit dem dafür nötigen Pathos nicht zurückhält. Allerdings ist es diesmal nicht der Hurra-Amerika-Pathos, den man sonst von dem „Pearl Harbour“-Regisseur gewöhnt ist: Nur einmal weht eine US-Flagge im Bild, und dann auch nicht stolz, sondern traurig von der Kamera abgewandt. Will wurde vom System nach seinem Kriegseinsatz einfach ausgespuckt – und im Finale gibt es eine Abrechnung mit den Polizist*innen, die wie im Fall von George Floyd einfach nur danebenstehen.
„Ambulance“ ist ein Aufräumen mit dem amerikanischen Traum. Ganz aufgeben will Michael Bay seine Heldenverehrung dann aber doch nicht. Aber statt den Cops oder den Gangster huldigt er diesmal der Krankenschwester, die Eiza González („Baby Driver“) absolut einnehmend und ganz ohne die Bay-typischen Sexy-Shots spielt. Es ist ein sehr, sehr weiter Weg von der übers Auto gebeugten Mikaela Banes in „Transformers“ hin zu dieser mitreißend-fähigen Cam Thompson – und man kann Michael Bay nur beglückwünschen, dass er diesmal nicht nur auf den CGI-Schnickschnack, sondern auch manch andere Unart wie seinen unreflektierten Hurra-Patriotismus oder seinen platten Sexismus verzichtet. So kommt sein pures inszenatorisches Können zum Vorschein – und das klatscht er in „Ambulance“ dermaßen kompromisslos und ohne jede (falsche) Zurückhaltung auf die Leinwand, wie man es im Action-Genre wohl seit George Millers „Mad Max: Fury Road“ nicht mehr erlebt hat.
Fazit: Ja, „Ambulance“ ist etwas zu lang und an Stellen absurder als nötig. Aber selbst das ändert nichts daran, dass Michael Bay hier auch ohne seinen üblichen CGI-Overkill inszenatorisch dermaßen aufdreht, dass sein gut zweistündiger Blockbuster-Showdown bis hin zum starken Finale trotzdem wie im Flug vergeht. Actionfans kommen an „Ambulance“ in diesem Jahr jedenfalls definitiv nicht vorbei.