„Geht es dem Bolschoi Theater schlecht, geht es auch Russland schlecht“, behauptet ein Präsidiumsmitglied des legendären Balletttheaters in Moskau mit ominöser Stimme, was angesichts der in Nick Reads Dokumentation „Bolschoi Babylon“ geschilderten Ereignisse wohl bedeutet, dass es Russland sehr schlecht geht. In einem fast schon masochistischen Akt der Selbstentblößung öffnete das Theater für Reads Film seine Türen und ließ sich gewissermaßen freiwillig unters Tutu schauen. Zum Vorschein kommt ein erstaunliches Geflecht aus Animositäten, Korruption und Gewalt, das viele der auf der Bühne des Hauses dargebotenen Dramen harmlos aussehen lässt. Es begann mit dem Säureattentat, bei dem im Januar 2013 der künstlerische Leiter des Balletts schwer verletzt wurde, was weltweit für Schlagzeilen sorgte. Diese aus Eifersucht verübte Tat nahm der Regisseur zum Anlass für seinen Film und auch wenn er bisweilen etwas zwanghaft versucht, das Bolschoi zum Spiegel der russischen Gesellschaft zu stilisieren, so ergeben sich bei seinem spannenden Blick hinter die Kulissen doch erstaunliche Wechsel-, Nach- und Nebenwirkungen.
Ausführlich widmet sich Nick Read dem Anschlag auf Sergej Filin, der einst selbst als Tänzer große Erfolge feierte, dann aber auf die „dunkle Seite“ wechselte, ins Management aufstieg und sofort Aversionen spürte. „Wir misstrauen unseren Führern“ sagt dazu eine Tänzerin, was sich in Reads Verständnis nicht nur auf den Chef des Balletts bezieht, sondern auch auf die Politiker und Machthaber in ganz Russland. Immer wieder betont er die Nähe zwischen Bolschoi und Kreml, der nur 500 Meter entfernt im Zentrum Moskaus situiert ist. Und es ist fraglos bizarr, wenn Ministerpräsident Dimitri Medwedew das Bolschoi als Geheimwaffe Russlands gegen Amerika und England anpreist. Solche Fundstücke verknüpft Nick Read suggestiv miteinander und stellt ominöse Zusammenhänge her, die sich häufig an der Grenze zur Verschwörungstheorie bewegen. Wenn der Brite dabei das angeblich so undurchschaubare Wesen Russlands und der Russen beschwört, dann wird sein Film allerdings selbst nebulös. Viel konkreter und aufschlussreicher ist da der Blick auf den Alltag des Bolschoi. In den Aufnahmen von Training und Auftritten, den Interviews mit Tänzerinnen und Managern, die erstaunlich offenherzige Einblicke geben, entsteht ein faszinierendes und auch entlarvendes Bild einer der bedeutendsten Kulturinstitutionen Russlands, ein Porträt, das von Spannungen, Intrigen und Machtkämpfen geprägt ist, aber auch von viel Leidenschaft und Hingabe.
Fazit: Nick Read präsentiert mit seiner Dokumentation „Bolschoi Babylon“ einen spannenden Blick hinter die Kulissen einer sonst hermetisch abgeschotteten Institution, steigert sich dabei allerdings in etwas fragwürdige Mutmaßungen über das russische Wesen.