Irgendwo in der tiefsten kanadischen Provinz liegt das kleine Dorf, das für Fiona die ganze Welt ist. Gelegentlich blickt die Kamera aus größerer Entfernung, wie von einem Hügel oder Berg herab, auf die ewig verschneite Szenerie. Dann wirkt das Dorf, das kaum mehr als eine Ansammlung von ein paar bunten Holzhütten ist, wie eine Modellbau-Landschaft. Und genau das ist es in diesen Momenten auch. Dominique Abel und Fiona Gordon machen wie schon in ihren vorigen Filmen wie „Die Fee“ und „Rumba“ auch in „Barfuß in Paris“ keinen Hehl aus ihren altmodischen Tricks. Nicht zufällig erinnern diese Totalen an 90 oder gar 100 Jahre alte Filme. Das Kino der beiden früheren Tänzer ist geprägt von den klassischen Stummfilmen jener Zeit und verweist immer wieder auf deren Klassiker. So spielen in „Barfuß in Paris“ die Szenen, in denen sich die Tür der kleinen Dorfbibliothek öffnet und der stürmische Wind sofort riesige Schneeflocken hereinwirbelt, direkt auf einen ähnlichen Moment in Charlie Chaplins „Goldrausch“ an. Die Menschen in der Bibliothek stemmen sich dann auf theatralische Weise gegen den Wind und werden doch wie einst der kleine Tramp fast weggeblasen. Abel und Gordon feiern in ihrer skurrilen Komödie also wieder einmal ungehemmt das Künstliche als die eigentliche Domäne des Films. Darin liegt aber nicht nur der Charme ihres Kinos, sondern zugleich auch dessen größte Schwäche.
Es gab mal eine Zeit, in der Fiona und ihre Tante Martha (Emmanuelle Riva) nichts trennen konnte. Doch das ist nun schon sehr lange her. Damals war Martha, die immer den Wunsch hatte, Tänzerin zu werden, nach Paris gegangen. Das kleine Mädchen blieb zurück in dem entlegenen kanadischen Dorf und wurde dort später Bibliothekarin. Als schließlich ein Hilferuf von Martha in Form eines völlig verschmutzten Briefs in der Bücherei ankommt, macht sich Fiona (Fiona Gordon) nichtsdestotrotz sofort auf den Weg in die französische Metropole. Das ist eben auch ihre große Chance, der Enge und der Eintönigkeit ihres Lebens in der Provinz zu entkommen. Nur verirrt sich Fiona kurz nach ihrer Ankunft in Paris und stürzt dann auch noch von einer Brücke in die Seine. Martha irrt indessen durch die Straßen ihres Viertels, immer auf der Flucht vor den Behörden, die sie in ein Altenheim bringen wollen.
„Barfuß in Paris“ ist ein Film der Irrungen und Wirrungen, im wörtlichen wie übertragenen Sinn. Neben Fiona und Martha, die durch die selben Straßen geistern und es doch schaffen, sich immer wieder zu verfehlen, irrt auch noch Dom (Dominique Abel), ein Clochard, der in einem grünen Zelt direkt an der Seine lebt, durch die Stadt. Er begegnet den beiden Frauen ständig. Und so fließt Abels und Gordons Films gemächlich dahin. Das Leben ist nichts als eine endlose Reihe zufälliger Begegnungen. Menschen finden sich und verlieren sich im nächsten Augenblick wieder. Diesem ständigen Hin und Her, das keinen Sinn hat und auch kein Ziel kennt, gewinnen die beiden Filmemacher teils kuriose, teils extravagante Szenen und Momente ab.
Die schönste dieser bizarren Vignetten, die sich scheinbar nur widerwillig zu einer Geschichte zusammenfügen, gehört der ersten richtigen Begegnung von Fiona und Dom. Beide hat es in ein nobles Restaurant auf einem Ausflugsschiff verschlagen. Sie sind die einzigen Gäste, die jeweils alleine an einem Tisch sitzen. Als Dom plötzlich tanzen möchte, bekommt er von allen Frauen einen Korb. Nur Fiona geht auf sein Angebot ein. Einige Minuten lang werden die beiden, die sich zuvor nicht kannten, in einem leidenschaftlichen Tango zu einem perfekten Paar. Während sie tanzen, scheint nicht nur das Restaurant, das in seinem eigenwilligen Retro-Look eher an einen Film von Aki Kaurismäki („Die andere Seite der Hoffnung“) erinnert als an ein echtes Nobelrestaurant, sondern die ganze Welt verzaubert. Dabei spielt es keine Rolle, dass sich Fiona Gordon betont steif und ungelenk gibt. Im Gegenteil, diese Musicalnummer zieht ihren Reiz gerade aus der bewussten Verweigerung falscher Perfektion.
So nah wie in diesem Augenblick kommt der Film seinen beiden Protagonisten allerdings nur selten. Meist bleiben ihre Schrullen einfach Schrullen und ihr linkisches Auftreten bleibt einfach linkisches Auftreten. In dem Bemühen möglichst skurrile Figuren und Situationen zu schaffen, schießen Abel und Gordon letztlich immer wieder über das Ziel hinaus. So ist die Tirade, in die sich Dom während einer Trauerfeier hereinsteigert, eher geschmacklos als seltsam. Was eigentlich noch sympathisch sein sollte, bekommt in diesem Moment, und nicht nur in diesem, fast schon psychotische Züge. Die inzwischen verstorbene Emmanuelle Riva („Liebe“) und Komödienveteran Pierre Richard („Monsieur Pierre geht online“), der einen kurzen, aber sehr berührenden Auftritt hat, schaffen durch ihr natürliches Spiel zwar ein leichtes Gegenwicht zu all den Exaltiertheiten der beiden Filmemacher. Aber letztlich triumphiert das Künstliche und mit ihm auch das Kunstgewerbe.
Fazit: Dominique Abels und Fiona Gordons Filme sind ohne Frage einzigartig. In ihnen leben die Ideen von Filmemachern wie Charlie Chaplin, Buster Keaton und Jacques Tati auf eine ganz eigene Weise fort. Nur übertreibt es das Künstlerpaar immer wieder. Und so wirkt, was eigentlich poetisch gemeint war, oft nur erzwungen und aufdringlich.