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    Die Hälfte der Stadt
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Die Hälfte der Stadt
    Von Gregor Torinus

    2014 erst hat die Dokumentation „Finding Vivian Maier“ bewiesen, wie spannend es sein kann, wenn plötzlich Tausende von künstlerisch hochrangigen Fotos einer bis dahin vollkommen unbekannten Fotografin auftauchen. Jetzt zeigt Regisseur Pawel Siczek in seinem Dokumentarfilm „Die Hälfte der Stadt“ die lange verschollen geglaubten Porträtaufnahmen des jüdischen Fotografen und Regionalpolitikers Chaim Berman aus der polnischen Provinz. Die ebenso natürlich wie persönlich wirkenden Bilder erwecken eine zuerst beschauliche, dann hochdramatische Vergangenheit zu neuem Leben: 1890 kommt Berman in dem Städtchen Kozienice zur Welt. Wie sein Vater wird er später Porträtfotograf im Ort. Als die deutschen Truppen einmarschieren, findet das weitgehend friedliche Zusammenleben von Weichsel-Deutschen, Polen und Juden ein jähes Ende. Chaim versucht als Stadtrat zwischen den Parteien zu vermitteln und gerät als Jude zunehmend selbst in Gefahr. In lebhaften Animationssequenzen bebildert Siczek Episoden aus dem Leben von Chaim Berman, aber das Herzstück des Films bleiben die historischen Fotos des engagierten Protagonisten.

    Dass wir die Aufnahmen Bermans heute sehen können, ist Saturnin Mlastek zu verdanken. Der Sohn der Familie, bei der Chaim zeitweise gewohnt hat, konnte Glasplatten mit Tausenden Negativen des Fotografen vor der Zerstörung retten. Die Bilder sind wertvolle Dokumente einer Zeit, in der rund 4000 Polen und 6000 Juden in Kozienice lebten, ehe die Hälfte der Bevölkerung einschließlich Berman ausgelöscht wurde (bis heute wohnen fast nur noch Polen in dem Ort). In den Aufnahmen, die Regisseur Siczek weitgehend für sich sprechen lässt, wird greifbar, was für Schicksale hinter diesen ungeheuerlichen Zahlen stecken, jenseits der „offiziellen“ Geschichtsschreibung entsteht ein erstaunlich lebendiger Eindruck eines alsbald brutal zerstörten Gemeinwesens und der Menschen, die es ausgemacht haben: Viele junge Paare und Familien präsentieren sich von ihrer besten Seite und blicken glücklich, stolz und hoffnungsvoll in die Kamera. Auf späteren Bildern sind dann bereits Deutsche, Polen und Juden an ihren unterschiedlichen Armbinden zu erkennen. Besonders bewegend und ausdrucksstark sind die Fotos von einigen jüdischen Frauen die ihren Davidstern individuell ausgestaltet haben als wollten sie aus Trotz und aus ungebändigtem Lebensdrang das diskriminierende Zeichen zu einem modischen Accessoire umfunktionieren.

    Fazit: Regisseur Pawel Siczek bringt uns nicht nur Leben und Werk des bemerkenswerten Menschen und Fotografen Chaim Berman näher, sondern auch die vom Protagonisten Porträtierten und ihre oft tragischen Schicksale.

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