Der „Tatort“ aus Dortmund zählt zu den ausgefallensten Vertretern der öffentlich-rechtlichen Krimireihe: Gleich vier Kommissare gibt es ansonsten nur im neuen Franken-„Tatort“ – und auch das Privatleben der Ermittler wird im Ruhrpott so intensiv beleuchtet wie in keiner anderen „Tatort“-Stadt. Der WDR setzte hier von Beginn an auf die kontinuierliche Weiterentwicklung der Figuren: Die Drehbücher zu den ersten fünf Dortmunder Folgen wurden allesamt von Jürgen Werner („Tod an der Ostsee“) verfasst, der die Betrachter ungewohnt ausführlich am Seelenleben des seit 2012 ermittelnden Quartetts teilhaben ließ. Am intensivsten widmete er sich dabei Hauptkommissar Peter Faber (Jörg Hartmann), mit dessen launischer Kotzbrocken-Art viele Zuschauer allerdings zunächst nichts anfangen konnten, ehe sich immer größere Teile des Publikums für das eigenwillige Konzept begeistern ließen. In Züli Aladags („300 Worte Deutsch“) neuem Dortmunder „Tatort: Schwerelos“, der erstmalig nicht aus der Feder von Werner stammt, erleben wir das Enfant terrible der Krimireihe nun von einer völlig anderen Seite: Ausgerechnet der exzentrische Faber bildet den Ruhepol eines emotionalen Krimidramas, in dem der zu lösende Mordfall fast nur schmückendes Beiwerk ist.
Der Fallschirmspringer Leo Janek (Florent Raimond) wird mit schwersten Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert. Schon bald ist klar, dass er nicht mehr aus dem Koma erwachen wird. Wurde sein Schirm manipuliert? Hauptkommissarin Martina Bönisch (Anna Schudt), die sich in der Klinik gerade nach dem Aufenthaltsort ihres verschwundenen Sohnes erkundigen wollte, glaubt nicht an einen Unfall und verständigt ihre Kollegen. Gemeinsam mit Hauptkommissar Peter Faber (Jörg Hartmann) ermittelt sie im Umfeld des Toten: Leos Ehe mit Klara Janek (Inez Bjørg David) schien ebenso zu kriseln wie das Verhältnis zu seinem Schwager Frank Hövel (Constantin von Jascheroff), dem er Geld geliehen hatte. Im Gegensatz zu seinem neunjährigen Sohn Martin (Mats Hugo), der kaum ein Wort spricht, sind Leos Freunde regelrecht redselig: Die Kommissare Nora Dalay (Aylin Tezel) und Daniel Kossik (Stefan Konarske) finden bei verdeckten Ermittlungen in der Springerszene heraus, dass der Tote bei Base-Jumps von hohen Gebäuden den ultimativen Kick suchte. Auch Dalay geht volles Risiko und stürzt sich in eine Affäre mit Fallschirmlehrer Jules Lanke (Albrecht Abraham Schuch)...
Erst vor wenigen Wochen übte Schauspielerin Friederike Kempter vom „Tatort“ aus Münster Kritik an der Figurenentwicklung in der Krimireihe. Was sie angesichts der Behandlung etwa ihrer eigenen Figur Nadeshda Krusenstern, deren Annäherung an Hauptkommissar Frank Thiel (Axel Prahl) nach einer Folge einfach fallengelassen wurde, durchaus zu Recht moniert, gilt indes nicht für den „Tatort“-Nachbarn aus Dortmund: Der Krimi aus dem Ruhrpott bildet so etwas wie eine eigene Serie innerhalb der Reihe. Drehbuchautor Jürgen Werner ließ sich zum Beispiel vier Folgen lang Zeit, ehe er im „Tatort: Auf ewig Dein“ das Geheimnis um das Schicksal von Fabers verstorbener Familie lüftete – und auch die kriselnde Beziehung zwischen Dalay und Kossik endete erst in dieser Folge, weil die Ermittlerin ein gemeinsames Kind abtreiben ließ. Wer glaubt, dass das Ex-Pärchen die Sache nun abgehakt hätte, wird im „Tatort: Schwerelos“ aber eines Besseren belehrt: Drehbuchautor Benjamin Braeunlich geht bei seinem Langfilmdebüt noch einen Schritt weiter als Werner und macht die privaten Probleme der Ermittler zur Antriebsfeder seiner Geschichte.
Der zu lösende Mordfall bildet dabei nur noch den erzählerischen Rahmen für ein mit ruhiger Hand inszeniertes, aber dennoch kraftvolles Drama, das in erster Linie aus den Spannungen zwischen den Kommissaren erwächst: Spätestens als sich Dalay in die Affäre mit Fallschirmlehrer Jules und aus luftiger Höhe ins Wasser der Eifeler Urfttalsperre stürzt, geht es zwischenzeitlich nur noch um die Gefühlswelt der Kommissarin und die Eifersucht ihres Ex-Freundes, mit dem sie sich weiterhin das Büro teilen muss. An die von der Figurenkonstellation her ähnliche Erfolgsserie „Dr. House“, die trotz der festen Muster auch von der Weiterentwicklung ihrer Figuren lebt, reicht der Dortmunder „Tatort“ aber (noch) nicht ganz heran: Dalays Affäre ist nicht gerade spannungsgeladen und auch der eifersüchtige Kossik tut immer exakt das, was man als nächstes von ihm erwarten würde. So wirkt Züli Aladags Film letztlich doch ein wenig zu formelhaft. Auch mit dem visuellen Aufgreifen des „Schwerelos“-Motivs übertreiben es die Filmemacher ein wenig: Selbst einige für den Handlungsverlauf weniger bedeutende Szenen werden von Kameramann Yoshi Heimrath („Wir sind jung. Wir sind stark.“) durch aufwändige Kamerafahrten und Aufnahmen aus der Vogelperspektive künstlich überhöht.
Dass die bisherigen fünf „Tatort“-Folgen aus Dortmund so unterhaltsam ausfielen, lag auch an Fabers markigen Sprüchen und Ego-Touren, mit denen er bei seinen Kollegen regelmäßig aneckte – im Vergleich dazu fällt sein Auftritt im 946. „Tatort“ aber geradezu handzahm aus. Seine bissigen One-Liner, die meist schon allein das Einschalten wert waren, sucht man bis auf wenige Ausnahmen („Na, wieder vom Hochofen gehüpft heute Nacht?“) vergeblich. Der ansonsten allenfalls von Bönisch zu bändigende Borderline-Kommissar hält sich diesmal zurück und drängt in die Rolle des Ersatzvaters für den schüchternen kleinen Martin (stark: Jungschauspieler Mats Hugo). Ganz anders die sonst so besonnene Bönisch: Sie wirkt nach dem Untertauchen ihres Sohnes zunehmend labil und trägt diesmal kaum zum Ermittlungserfolg bei. Die Auflösung der Täterfrage dürfte für krimierfahrene Zuschauer aber ohnehin nur Routine sein: Im „Tatort: Schwerelos“ ist nicht der finale Aha-Moment, sondern der Weg das Ziel, und der dürfte die Fans von Faber & Co. trotz des eher besonnen agierenden Publikumslieblings einmal mehr zufriedenstellen. Freunde klassischer Krimis und des gemeinsamen Miträtselns kommen aber nur bedingt auf ihre Kosten.
Fazit: Drama, Baby, Drama! Züli Aladags „Tatort: Schwerelos“ ist ein stark gespieltes, aber etwas formelhaftes Krimidrama, in dem die Gefühlswelt der Kommissare intensiv ausgeleuchtet wird.