„Landarzt zu sein, ist kein Beruf. Es ist eine Berufung!“. Regisseur und Drehbuchautor Thomas Lilti weiß, wovon seine Hauptfigur Monsieur Werner spricht. Schließlich arbeitete der heute 40-jährige Franzose vor seiner Zeit im Filmgeschäft selbst als Mediziner. Schon in seine vorige Regiearbeit „Hippocrate“ ließ er seine Erfahrungen aus diesem Metier miteinfließen und sein neues Werk „Der Landarzt von Chaussy“ macht er nun zu einer Hommage an den gesamten medizinischen Berufsstand. Weit entfernt von der romantischen Idealisierung in thematisch vergleichbaren Fernsehformaten wie „Der Landarzt“ oder „Der Bergdoktor“ zeichnet der Regisseur und Drehbuchautor ein gerade in den Details überzeugendes, genau beobachtetes Porträt des Ärztealltags auf dem Lande. Lilti lässt in seinem sozialkritisch angehauchten Drama bei allem Charme auch die Schattenseiten des Berufs und die Mängel des Gesundheitssystems nicht aus – so wird „Der Landarzt von Chaussy“ umso berührender.
Der Allgemeinmediziner Jean-Pierre Werner (François Cluzet) arbeitet in einem kleinen französischen Dorf als Landarzt. Seit über 30 Jahren kennt er sämtliche Sorgen und Nöte seiner Patienten und ist innerhalb der Gemeinschaft sehr beliebt. Als bei ihm ein Gehirntumor diagnostiziert wird, ist er gezwungen, kürzerzutreten. Auch wenn seine Ärzte ihm zur vollständigen Schonung raten, kommt es für ihn nicht infrage, die eigene Praxis zu schließen. Stattdessen lässt er sich darauf ein, die strebsame Nachwuchsmedizinerin Nathalie Delezia (Marianne Denicourt) als Mitarbeiterin einzustellen. Für die zuvor an einem Großstadtkrankenhaus tätige Nathalie bedeutet die Arbeit auf dem Land Entschleunigung pur. Während Jean-Pierre seine Krebserkrankung vor seiner Kollegin und den Patienten geheim hält, macht er Nathalie behutsam mit den Sitten und Gebräuchen auf dem Land vertraut. Aber auch die Patienten müssen sich mit „der Neuen“ arrangieren, die sich das Vertrauen der Dorfgemeinschaft erst verdienen muss.
Dr. Werner ist in der Gemeinschaft „Mädchen für alles“. Er kennt alle körperlichen und seelischen Wehwehchen seiner Patienten. Was auf den ersten Blick so bodenständig, fast gemütlich klingt, bedeutet besondere Verantwortung und besonderen Stress – der emotionale Spagat zwischen purer Aufopferungsbereitschaft und dem drohenden Burn-Out ist in der formidablen Darstellung von François Cluzet („Ziemlich beste Freunde“) wunderbar nachvollziehbar. Obwohl die Hauptfigur gleich in der allerersten Szene mit ihrer schwerwiegenden Diagnose konfrontiert wird, bleibt die Leidenschaft des Protagonisten für seinen Beruf stets glaubwürdig, gerade weil die Herausforderungen eben nicht beschönigt werden. In Thomas Liltis unaufgeregter Inszenierung etwa von sachlich-nüchternen Behandlungsgesprächen werden Ärzte nie zu „Halbgöttern in Weiß“ stilisiert. Aber indem er immer wieder die Perspektive der Mediziner einnimmt, zeigt uns der Regisseur umso nachdrücklicher, was sie wirklich leisten. Und das ist durchaus bewundernswert.
Dem Publikum wird hier das gesamte Spektrum der ärztlichen Tätigkeit auf ungemein authentisch wirkende Art nahegebracht. Dazu gehören der Papierkram und die Routinebehandlung genauso wie der Frust, wenn ein guter Rat nicht angenommen wird und der Zweifel, ob einem 90-Jährigen wirklich noch ein dringend notwendiger Krankenhausaufenthalt zugemutet werden sollte. Von der Last, einer vor der Wahrheit die Augen verschließenden Mutter vom Autismus ihres eigentlich glücklichen Kindes erzählen zu müssen, ganz zu schweigen. So ganz traut sich Lilti jedoch nicht, es dabei zu belassen: Als wollte er uns vor einer Überdosis harten Realismus bewahren, streut er Andeutungen einer möglichen Romanze zwischen Dr. Werner und seiner neuen Mitarbeiterin ein. Diese Nebenhandlung mit ihren schüchternen Blicken in die leicht geöffnete Bluse bleibt dann auch prompt klischeehaft und wenig überzeugend. Viel schöner ist es, wenn die hektische Medizinerin aus der Stadt (auch Marianne Denicourt zeigt eine tadellose Leistung) und der Landarzt voneinander lernen: Delezia legt die Gewohnheit ab, Patienten im Schnitt alle 22 Sekunden zu unterbrechen und der auf Karteikarten schwörende Dr. Werner schätzt nun auch die Vorzüge eines Computers.
Fazit: „Der Landarzt von Chaussy“ ist trotz des biederen Titels ein starkes, sehr glaubwürdiges Drama über den Ärztealltag auf dem Dorf.