Dem zweiten Weltkrieg konnte sich in den USA kaum ein Filmemacher entziehen. Die Filmindustrie sollte die Soldaten unterstützen und natürlich die Bevölkerung auf den Krieg einschwören. Vor allem Walt Disney tat sich mit zahlreichen propagandistischen Zeichentrickfilmen besonders hervor. Auch ein Alfred Hitchcock konnte (und wollte) sich dem nicht entziehen und drehte im Jahr 1944 zwei Propagandakurzfilme (allerdings für das britische Informationsministerium). Schon zuvor drehte Hitchcock mit „Das Rettungsboot“ einen Film, der zwar ein Setting vor dem Hintergrund des 2. Weltkrieges hat, aber kein Propagandafilm, sondern ein hoch spannender Thriller, ein starkes Drama und zudem eine Parabel ist.
Ein Schiff wurde von einem deutschen U-Boot torpediert. In einem kleinen Rettungsboot treibt eine Frau, die man an so einem Schauplatz nicht vermuten würde. Die Journalistin Constance Porter (Tallulah Bankhead, „Das düstere Haus“) ist gut gekleidet, trägt ein wertvolles Armband und hat eine Kamera dabei, mit der sie – wie sie kurz später sagt – Bilder von unglaublichem Wert gemacht hat. Lange bleibt sie nicht allein im Rettungsboot. Als erstes kommt der raue Maschinist John Kovac (John Hodiak, „Kesselschlacht“) angeschwommen, der gar nichts davon hält, wie sensationslüstern seine Begleiterin den Krieg aufnimmt. Nach und nach werden weitere Leute aus dem Meer gezogen: Der reiche Industrielle Charles D. Rittenhouse (Henry Hull, „Entscheidung in der Sierra“), die Krankenschwester Alice (Mary Anderson, „Vom Winde verweht“), der Schiffsfunker Stanley Garrett (Hume Cronyn, Im Schatten des Zweifels), der schwarze Stewart Joe (Canada Lee, „Jagd nach Millionen“), der schwer am Bein verletzte Seemann Gus (William Bendix, „Polizeirevier 21“) und Mrs. Higgins (Heather Angel, „Verdacht“), die ihr Baby dabei hat. Dieses ist allerdings tot, was die Frau aber nicht merkt oder nicht merken will. Als es so scheint, dass man nun keinen Überlebenden im Meer mehr finden wird, greift eine Hand übers Bord. Die anderen helfen dem Mann hoch, der sich als Deutscher, als Feind, entpuppt. Da die weit herum gereiste Constance Porter Deutsch kann, besteht die Möglichkeit sich mit ihm zu unterhalten: Willy (Walter Slezak, „People Will Talk“) behauptet erst, er wäre nur ein unbedeutendes Mannschaftsmitglied des U-Bootes, welches ebenfalls versenkt wurde, gewesen, doch schnell stellt sich heraus, er war der Kapitän. Im Boot entbrennt ein heftiger Streit, wie man mit ihm verfahren soll. Die einen wollen ihn töten, die anderen sind der Meinung, dass man dies nicht dürfe. Schnell ist die Besatzung aber auf ihn angewiesen. Man hat keinen Kompass und Willy behauptet er könne die Richtung am Stand der Sonne erkennen. Doch kann man ihm trauen?
Hitchcock macht sich den eng begrenzten Raum des Bootes und die Übersichtlichkeit der Person zunutze, um gerade damit die Spannung zu erhöhen. Allen Personen wird genug Raum gewidmet, um sie zu charakterisieren. Diese Charakterisierung wird aber nie in den Vordergrund gerückt, so dass sie vom eigentlichen Sujet des Films ablenkt, sondern geschieht eher beiläufig, in Nebensätzen. Dem Zuschauer wird so schnell klar, dass sich auf dem Boot die unterschiedlichen Personen mit den gegensätzlichen Charakteren tummeln. Da zeigen sich bei Kovac schnell kommunistische Ansätze, während Rittenhouse der kapitalistische Industrielle ist, der sich erst einmal zum „Führer“ aufschwingt und in dessen Ansichten in einigen Momenten faschistische Tendenzen nicht zu übersehen sind. Da reagiert dann natürlich Joe überrascht, als er gefragt wird, was er für eine Meinung hat. Bei Smith stellt sich heraus, dass er deutschstämmig ist und früher Schmidt hieß, die Journalistin ist zuerst vor allem an der Story interessiert und dann vor allem damit beschäftigt jedem ihren Rat aufzudrücken (Lieblingssatzbeginn: „Some of my best friends are…“).
Hitchcock zeigt den einen Teil der Besatzung so als zerrissen. Jeder tendiert in eine andere Richtung, eine einheitliche Linie gibt es nicht. Dem gegenüber steht der Deutsche Willy. Willy verfolgt von Beginn an einen klaren Plan. Er ist dabei dem Rest der Besatzung in allem überlegen. Willy kennt sich nicht nur mit Medizin und Technik aus, sondern mit vielem mehr (was hier aus Spoilergründen nicht verraten werden soll). Willy ist überlegen, weil er Dinge besitzt, von denen, die anderen nichts wissen. Willy ist aber auch überlegen, weil er ein Mann der Tat ist. Als ein Sturm aufzieht, schreitet er zur Tat, lenkt das Boot und rettet so wohl das Leben der Anwesenden. Er gibt dabei Kommandos, denen jeder Folge leistet. Aus dem Kriegsgefangenen wird plötzlich der Skipper, aus dem Mann, dem kaum einer traute, derjenige, der sie nun führen soll. Willy wird dargestellt wie ein „Superman“, wie ihn auch einer der anderen Insassen bezeichnet.
Hitchcock hat diese überlegene Stellung des Nazis Willy große Kritik eingebracht. Er würde damit die Deutschen als den Amerikanern überlegen darstellen, war ein Vorwurf. Hitchcock hat nach eigener Aussage im Interview mit François Truffaut [1] dies bewusst so gemacht, um zu zeigen, dass die Demokratien, die durcheinander waren, unterschiedliche Meinungen vertraten, sich zusammenraffen und einigen müssen, um sich auf den Feind zu konzentrieren, der so klar und zielstrebig vorgeht. Während Willy für Nazideutschland steht, verkörpert also die restliche Besatzung die einzelnen Mitglieder der Alliierten mit ihren unterschiedlichen Auffassungen. Der Film ist somit auch eine Parabel auf die Welt, zudem auch noch eine Parabel auf das Leben, was sich auf einige weitere Anspielungen stützt. Die unterschiedliche Ausgestaltung der Charaktere dient aber zudem einem deutlich wichtigeren Zweck als dieser Symbolik. Nur so wird die Spannung auf den Höhepunkt gebracht. Nur dadurch, dass der auf den ersten Blick zahlenmäßig deutlich unterlegene Willy, von den Fähigkeiten und der Entschlusskraft den anderen überlegen ist, ergibt sich für diese eine Gefahr. Nur so muss der Zuschauer gleich aus zwei Gründen um die anderen Insassen des Bootes bangen. Zum einen entsteht die Spannung natürlich schon daraus, dass sie auf dem offenen Meer in einem kleinen Rettungsboot treiben, mit kaum Proviant und dann ist da noch der Feind an Bord.
Hitchcock versteht es wie in fast allen seiner Filme meisterhaft diese Spannung in Szene setzen. Ihm gelingt die Suspenseerzeugung, die ihn so bekannt gemacht, rundum. In den richtigen Momenten werden dem Zuschauer die richtigen Dinge enthüllt. Auch die hervorragende Kameraarbeit trägt dazu bei. Die Kamera bleibt immer im Innern des Bootes, es gibt keine Außenansichten. So ist man den Figuren deutlich näher, blickt ihnen in die Gesichter oder auf andere Körperteile. Hitchcock versteht es dabei immer wieder allein mit seiner Inszenierung so viel zu sagen. Fast jede Einstellung dient entweder der näheren Charakterisierung der Figuren oder der Erzeugung von noch mehr Spannung.
Hitchcock kann dabei auf die glänzend ausgewählten Darsteller bauen. Das komplette Ensemble spielt rundum überzeugend, wobei vor allem der aus Deutschland emigrierte und in den Kriegsjahren natürlich auf Rollen als Deutscher festgelegte Walter Slezak und Tallulah Bankhead, zu dieser Zeit ein ganz großer Star, noch einmal besonders herausragen. Hitchcock selbst ist auch wieder zu sehen. Bei „Lifeboat“ musste er nur aufgrund des Settings mit einem Boot auf offenem Meer nur etwas kreativer sein, um sein Markenzeichen, den Cameoauftritt zu setzen, hat dies aber gewitzt gelöst.
Auch wenn „Lifeboat – Das Rettungsboot“ in der Bekanntheit weit hinter vielen anderen Filmen von Hitchcock zurückliegt, so kann Hitchcocks einziger Kriegsfilm, wie er öfters bezeichnet wird, mit den anderen Werken des Regisseurs mühelos mithalten.
[1] siehe François Truffaut (in Zusammenarbeit mit Helen G. Scott): Truffaut / Hitchcock, München / Zürich 1999 (Diana-Verlag) , S. 148