Als „Nocturama“ im August 2016 in die französischen Kinos kam, wurde er wegen seines Plots – eine Gruppe junger Leute verübt Anschläge auf symbolträchtige Ziele in Paris – von vielen als Reaktion auf die terroristischen Attacken in der französischen Hauptstadt im Januar und im November 2015 verstanden. Aber es handelt sich bei Bertrand Bonellos Thriller-Drama keineswegs um eine fiktionale Verarbeitung der realen Ereignisse, vielmehr hat der Regisseur das Drehbuch bereits 2010 geschrieben und wurde dabei nach eigener Aussage von dem Eindruck einer allgemeinen Empfindung angetrieben, dass jederzeit „alles in die Luft gehen könnte“. In „Nocturama“ sind diese schwer greifbare Anspannung, die Wut und das Unbehagen einer Generation in Handlungen umgeschlagen, die tatsächlich in den großen Knall münden. Doch damit ist Bonellos Film noch lange nicht zu Ende: Er lässt auf die spannende Schilderung eines minutiös ausgeführten Plans bei Tageslicht noch ein nächtliches Kammerspiel folgen. Nach Aktion kommt Stillstand, nach Zielstrebigkeit Ungewissheit, nach einem Thriller im Stile eines mysteriösen Heist-Movies ein spielerisches Jugenddrama mit apokalyptischen Vorzeichen. Ganz ähnlich wie in seinen historischen Filmen wie zuletzt „Haus der Sünde“ und „Saint Laurent“ ist der Regisseur einer inneren Wahrheit auf der Spur, die mit Realismus in einem dokumentarischen Sinne nur bedingt zu tun hat. In „Nocturama“ dringt er dabei so weit vor wie noch nie und gibt der tiefsitzenden Malaise unserer Zeit eine Form.
Ein sonniger Tag in Paris. Ein paar junge Leute sind allein oder zu zweit in der Stadt unterwegs, in der Metro oder zu Fuß. Sie werfen Handys in den Müll, holen Pakete ab, buchen Hotelzimmer, nehmen einen Termin im Innenministerium wahr und verschaffen sich Zugang zu den leerstehenden Etagen eines Hochhauses in La Défense. Sie folgen einem Plan, der sich erst nach und nach konkretisiert – und am Ende des Tages explodieren mehrere Bomben. Danach verschanzen sich David (Finnegan Oldfield), Sarah (Laure Valentinelli), Yacine (Hamza Meziani), Mika (Jamil McCraven), Sabrina (Manal Issa), André (Martin Guyot) und Samir (Ilias Le Doré) mit Omar (Rabah Naït Oufella), ihrem Komplizen beim Sicherheitspersonal, in einem Luxuskaufhaus mitten im Stadtzentrum. Dort wollen sie verharren, bis sich die Lage beruhigt hat …
Bertrand Bonello nähert sich seinen Themen, seinen Motiven und seinen Figuren wie immer indirekt und so beginnt „Nocturama“ (der Titel ist einem Album von Nick Cave entliehen) rätselhaft und fast schon unscheinbar. Der Filmemacher begleitet seine noch namenlosen Protagonisten in der U-Bahn und in den Straßen. Er lässt uns in ihre ernsten und konzentrierten Gesichter schauen. Sie kommen aus ganz unterschiedlichen Milieus und Schichten, sind männlich und weiblich, hell- und dunkelhäutig. Nur eines haben sie auf einen Blick gemeinsam: Sie sind sehr jung. Und wie sich langsam abzeichnet, verfolgen sie einen gemeinsamen Plan. Eine an Robert Bresson („Pickpocket“) erinnernde geradezu nüchterne Präzision paart sich in der Inszenierung mit der spielerischen Spannung eines „Ocean’s Eleven“-artigen Hollywood-Capers. Immer wieder blendet Bonello die Uhrzeit ein, streut oft auch witzige Details ein, wiederholt Momente aus neuer Perspektive oder springt ein paar Minuten vor oder zurück. Dabei entwickelt der Film auch dank Bonellos selbstkomponierter gleichmäßig pulsierender Elektromusik einen hypnotischen Sog, der seinen vorläufigen Höhepunkt in einer Rückblende findet, in der wir die Protagonisten erstmals alle vereint sehen. Sie tanzen und verbrüdern sich. Das könnten Bilder einer Utopie sein, aber die Gemeinsamkeit ist mörderisch, denn das, was die Gruppe ausbrütet, ist nichts weniger als ein Angriff auf die Fundamente des Staates und der Wirtschaft.
Wenig später sehen wir die Früchte ihrer Aktionen dann in einer so poetischen wie beängstigenden Split-Screen-Einstellung: Simultan explodieren ihre Sprengsätze in einem Bürohochhaus in La Défense, im Innenministerium, in parkenden Autos vor der Börse und an der Statue von Freiheitsheldin Jeanne d’Arc am Place des Pyramides. Der Anschlag ist das erzählerische Scharnier in Bonellos Film, danach ist nichts mehr wie vorher. Die jugendlichen Täter verstecken sich, und in der verführerischen Kulisse eines luxuriösen Konsumtempels zeigen sich erst ihre ganze Naivität und ihre Verwirrung, aber auch die Reste einer kindlichen Unschuld, während die Gründe für ihr Tun ihnen noch nicht mal selbst so richtig klar sind. So können sie gar nicht anders als sich in dieser Nacht, in der das ganze Leben stillzustehen scheint, staunend den Verlockungen der Kathedrale des Kapitalismus hinzugeben. Aber sie nutzen die Freiheit, es auf ihre eigene Art zu tun (Paul Ankas „My Way“ ist ein programmatischer Titel auf ihrer Playlist der Nacht). Ihr Regisseur tut es ihnen gleich und verwandelt den zweiten Teil des Films in eine elegante Phantasmagorie, bei der wir unverhofft einer von Adèle Haenel („Die Blumen von gestern“) gespielten Weisen begegnen. Mit schlafwandlerischer Souveränität inszeniert Bonello den Totentanz einer verlorenen Generation.
Fazit: Bertrand Bonellos „Nocturama“ ist zu gleichen Teilen spannender Thriller und sinnliches Drama, aber vor allem ist der meisterlich inszenierte Film das ebenso wahrhaftige wie ambivalente Porträt einer Jugend ohne Orientierung.