Das Glück scheint perfekt: Katja und ihr Mann Nuri, der sich erfolgreich von seiner kriminellen Drogenvergangenheit gelöst hat, und deren kleiner Sohn Rocco bilden eine glückliche Familie, in der die ethnischen Konflikte, die durch Nuris Migrationshintergrund bedingt sein könnten, in Wohlgefallen aufgelöst sind. Für Katja und Nuri sind ihre religiösen Wurzeln nicht wichtig. Sie sind der Prototyp einer Familie, die im deutschen Multikulti, wie es sich Grüne und Linke immer gewünscht haben, angekommen sind. Doch dann der große Knall: Verblendete Faschisten zünden eine Bombe und das Glück zerspringt in tausend Teile. Keiner Mutter und Ehefrau möchte man wünschen, was Katja alias Diane Kruger, die die trauernde und traumatisierte Hinterbliebene brillant verkörpert, hier durchmachen muss. Als die Täter gefasst werden, der zweite Schock: ein fingiertes Alibi sorgt dafür, dass die beiden Attentäter freigesprochen werden. Katja findet sich damit nicht ab und heftet sich auf die Spur der Mörder, die nach Griechenland führt. Hier zeigt sich, dass es nicht nur in Deutschland Menschen gibt, die einer menschenverachtenden Ideologie anhängen...
Und das ist nicht die einzige politische Unkorrektheit, die Fatih Akin seinen Zuschauern zumutet. Der Fernsehspiel-Belehrungsmodus bleibt ausgeschaltet. Akin weiß: Das Moderieren und Ausbalancieren, das für die Ära Merkel so typisch ist, taugt nicht für einen Spielfilm im Leinwandformat. Der Regisseur verzichtet auf schablonenhafte Schwarzweiß-Zuordnungen, obwohl das Thema förmlich dazu einlädt: Hier die bestens integrierte multiethnische Familie mit blütenweißer Weste, dort die perversen Neonazi-Attentäter und dazwischen – ebenfalls dem Lager der Bösen zuzuordnen – die ignorante Polizei, die nur sieht, was sie sehen will, und daher für die Hinterbliebenen zur zusätzlichen Belastung wird. Der Filmemacher nutzt die ihm zu Gebote stehende künstlerische Freiheit dazu, sich von den realen Vorbildern zu lösen und eine eigene Geschichte zu erzählen, die eine andere, dramaturgisch bestimmte innere Logik hat. Nein, Katja verkörpert nicht das Hamburger Bildungsbürgertum, mit Wolfgang-Joop-Klamotten und Jetset-Freundeskreis. Katja ist pures Prekariat, spricht im Gossenjargon und hat wie ihr Mann eine Drogenvergangenheit. Nein, der Ermordete war kein Saubermann, er saß im Knast und bot Anlass für Ermittlungen »in alle Richtungen«, wie es im Polizeijargon heißt. Wer – anders als die realen Opfer der »Döner-Morde« – sich auf kriminelle Machenschaften eingelassen hat, darf sich nicht beschwerten, wenn das später Gegenstand der Motivsuche wird. Anders ausgedrückt: Gäbe es keine kriminellen Türken und Kurden in Deutschland, wäre die Polizei auch nicht darauf gekommen, nach den »Döner-Morden« in diese Richtung zu ermitteln. Nein, man kann der Polizei nicht vorwerfen, dass sie alle Möglichkeiten in Erwägung zieht, ehe sie am Ende doch auf die richtige Spur findet. Anders als mein Kollege von Filmstarts, der die Fabel vom »wütenden« Regisseur spinnt, habe ich keinen seelenlosen Polizisten gesehen, der bei mir als Zuschauer wegen seiner bornierten Voreingenommenheit kaltes Grausen auslöst, sondern einen fairen und emotional berührbaren Chefermittler. Nein, es ist kein Fehler im deutschen Rechtssystem, wenn deutsche Gerichte beim geringsten Zweifel für den Angeklagten entscheiden, sondern rechtsstaatlicher Standard. Und nein, die verblendeten Neonazis, die hinter dem brutalen Anschlag stecken, sind keine gesichtslosen Monstren in Springerstiefeln, sondern da war ein hübsches Mädchen am Werk, das deutlich attraktiver ist als Beate Zschäpe und das man mühelos auch den linksautonomen Krawallbrüdern hätte zuordnen können, die Hamburger Straßenzüge vor ein paar Monaten zum Bürgerkriegsschauplatz machten (übrigens gar nicht weit weg von Akins eigenem Domizil). Auch das gehört zu den Wahrheiten, denen man beim Anschauen von »Aus dem Nichts« auf die Spur kommen kann: Es spielt keine Rolle, ob man als verblendeter Linksdogmatiker oder als durchgeknallter Rechtsextremist Bomben schmeißt, ob Liste-Links- oder AfD-Parteibüros verwüstet werden. Die Gewalt ist immer gleich verabscheuungswürdig. Es sind die einfachen Wahrheiten, die gerne übersehen werden. Akin begeht diesen Fehler nicht und das ist eine der großen Stärken dieses Films.
Die andere ist – in dem Punkt herrscht unter Kritikern Übereinstimmung – die Hauptdarstellerin.Über Diane Krugers schauspielerische Leistung wurde viel geschrieben, Akin bezeichnete sie in Form einer Huldigung als »seine Muse«; wer die Mimin allerdings in einer der vielen französischen Rollen gesehen hat, in denen sie das Helena-Image aus »Troja« bereits mehr als erfolgreich konterkarierte, wird wenig überrascht sein von dem, was die Kruger vor der Kamera abzuliefern imstande ist. Auch der vergleichsweise unwahrscheinliche Schlussakkord, in dem Katjas Rachefeldzug gipfelt, wirkt, so wie sie ihn darstellt, nicht überzogen, sondern folgt der inneren Logik, die Akin für seine Figur konzipiert hat. Und so fällt auch nicht weiter ins Gewicht, dass das Drehbuch zu »Aus dem Nichts« zu den schwächeren des Filmemachers gehört und bei weitem nicht den Tiefgang und die Komplexität aufweist wie »Auf der anderen Seite«, der bisher beste Film des Ausnahmetalents.
Fazit: Ein starker Film mit einer unheimlich präsenten Diane Kruger und der bisher beste Film zum Thema NSU-Morde – dramaturgisch effizient und keineswegs tendenziös aufbereitet, mit starken Bildern und einem verstörenden Finale.