Der kanadische Regisseur Mathieu Denis, der mit dem in der Sektion Generation 14+ auf der Berlinale 2015 gezeigten „Corbo“ seinen ersten Spielfilm vorlegt, war zu der Zeit, die sein politisches Drama über einen 16-jährigen Revoluzzer behandelt, noch lange nicht geboren. Aber das macht nichts, denn in Zeiten von Islamischer Staat und Co. ist sein Thema aktuell wie selten zuvor: Im Jahr 1966 herrschen in Québec noch andere politische Verhältnisse. Obwohl die Mehrheit der Bevölkerung französischsprachig ist, gilt die englische Sprache als Sprache des Establishments und ihre Beherrschung ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Zugehörigkeit zur gesellschaftlichen Elite. Doch im Laufe der Sechziger werden die soziale Ungleichheit und die politische Marginalisierung der Mehrheit immer weniger einfach so hingenommen.
In dieser politisch immer hitziger werdenden Atmosphäre wird auch der aus gutbürgerlichem französisch-italienischen Hause stammende Jean Corbo (Anthony Therrien) zunehmend radikalisiert. Der 16-jährige Schüler schließt sich einer revolutionären Gruppierung an, während sein älterer Bruder sich immer noch politische Reformen von einer neuen Partei erhofft, die bei den Wahlen jedoch zu wenig Stimmen erhält. Jean und den jungen Revolutionären kommt dieses Ergebnis jedoch gerade recht, stärkt es sie doch in ihrer Überzeugung, dass Gewalt die einzige Lösung ist und man deshalb auch das Risiko in Kauf nehmen muss, selbst Unschuldige zu verletzen oder gar zu töten. Um seine Loyalität zu seinen Mitstreitern zu beweisen, übernimmt Jean einen besonders gefährlichen Auftrag…
Regisseur Denis legt große Sorgfalt auf die charakterliche Ausgestaltung seines jugendlichen Helden: Dessen Radikalisierung wird nämlich nicht vereinfacht mit einem einzelnen Auslöser begründet, sondern scheint zu ähnlichen Teilen aus seiner Persönlichkeit sowie seinen familiären und gesellschaftlichen Vorbelastungen zu erwachsen. Zudem verleiht das hervorragende Darstellerensemble dem Drama Glaubwürdigkeit bis in die Nebenfiguren. Aber während Denis bei der Charakterzeichnung auch auf die Zwischentöne achtet, zeigt er bei der Inszenierung einen gewissen Hang zur symbolhaften Verlangsamung: Stilmittel wie lange Blicke oder bedeutungsschwangere Sprechpausen verleihen dem Film aber nicht etwa eine zusätzliche Bedeutung, sondern schmälern vielmehr den Eindruck von Authentizität. Auch die Farbdramaturgie verstärkt die unnötige Künstlichkeit: Mit seinen erdfarben-gedeckten Tönen haftet dem Film ein fast schon musealer Charakter an.
Fazit: Trotz einiger Längen psychologisch sorgfältig erzähltes und hochaktuelles Drama um einen Jugendlichen, der im Kanada der 1960er Jahre politisch radikalisiert wird.
Dieser Film läuft im Programm der Berlinale 2015. Eine Übersicht über alle FILMSTARTS-Kritiken von den 65. Internationalen Filmfestspielen in Berlin gibt es HIER.