Die junge, titelgebende Spanierin Victoria (Laia Costa) ist des nachts in einem Berliner Club unterwegs, wie es sie in solchen Großstädten zuhauf gibt. Die Stimmung ist zwar ausgelassen, aber gegen halb fünf zieht es Victoria Richtung Ausgang - der schlecht bezahlte Job in einem Café ein paar Straßen weiter, das sie in wenigen Stunden öffnen muss, wartet auf sie. Noch bevor sie den Laden verlassen kann, wird sie von vier feierwütigen Jungs angesprochen, die sich mit den verschrobenen Namen Sonne (Frederick Lau), Boxer (Franz Rogowski), Blinker (Burat Yigit) und Fuß (Max Mauff) vorstellen, und sie in behelfsmäßigem Englisch dazu überreden wollen, mit ihnen vor Anbruch der Morgendämmerung noch ein wenig um die Häuser zu ziehen, bzw. "to show you our Berlin", wie Sonne es ausdrückt. Victoria zögert zunächst, da die Pflicht ruft, und sie auch nicht weiß, was sie erwartet, doch dann überwiegt doch die Neugierde, und sie begleitet die Jungs mit ihrem Fahrrad erst zum Späti, der eher aus Verlegenheit beklaut wird, da die Bedienung ihr Nickerchen macht, und dann mit dem Alk-Vorrat auf ein entlegenes Dach, zu dem die Freunde wohl eine besonders innige Verbindung haben, wie sie ihr andeuten.
Während Boxer gesteht, dass er im Knast gewesen sei, Blinker mit seinem Running Gag herumpost ("Bling-Bling-Blinker.. Aber mein Bling Bling hab ich zuhause gelassen") und Fuß so besoffen ist, dass er nur noch die Hälfte von alledem mitbekommt, nähern sich Sonne und Victoria mit leisen Flirtversuchen einander an. Als Victorias Schichtbeginn immer näher rückt, entschließt sich Sonne, sie zum Café zu begleiten und dort noch einen Kakao zu trinken ("einen doppelten"). Gerade als es sich die beiden am Piano des Lädchens gemütlich gemacht haben und Sonne feststellt, dass seine Gehversuche an den Tasten gegen Victorias doch deutlich virtuoseres Spiel locker abstinken, wird ihre Zweisamkeit vom heraneilenden Rest der Clique, den sie auf dem Dach zurückgelassen hatten, unterbrochen. Boxer offenbart Sonne in verzweifelter Hektik, dass ein ehemaliger Knastgenosse von ihm einen kriminellen Dienst einfordern würde - und zwar jetzt sofort! Alle Versuche, Boxer davon zu überzeugen, dass man das doch verschieben könne und der Auftraggeber sich sicherlich vorerst beschwichtigen lasse, laufen ins Leere. Da Fuß nicht mehr aufnahmefähig ist, erklärt sich Victoria an seiner Stelle dazu bereit, das Fluchtfahrzeug zu lenken. Gesagt, getan. Ziel der verbrecherischen Aktion ist eine Bank im angrenzenden Viertel - was als angsteinflößender Plan beginnt, wird schnell zum adrenalintreibenden Abenteuer, und mündet in einem völligen Desaster....
Eine Handvoll junger Menschen bei einem nächtlichen Streifzug durch eine Millionen-Metropole - die Idee von Regisseur Sebastian Schipper ("Absolute Giganten", "Ein Freund von mir") ist denkbar simpel, und erstmal nicht neu. Aber wie so oft bei diesen Filmperlen, die es abseits des Blockbuster-Einheitsgebräus zu entdecken gibt, steht hier eher das Wie, als das Was im Blickpunkt des Film-Erlebnisses. Schipper, dessen Steckenpferd schon bisher Buddy-Movies waren, in denen Nacht-und-Nebel-Aktionen, Selbstfindungs-Trips unter Freunden, und hilflos posierende, aber harmlose Jungmänner, die sich im Angesicht starker Frauen-Persönlichkeiten zu halsbrecherischen Abenteuern hinreißen lassen, inszenierte "Victoria" mit wackliger Digicam in einer einzigen, 140-minütigen Einstellung!! Schnitte gibt es nicht, es wurden drei Takes in einem Schwung gedreht, von denen der letzte dann für den fertigen Film ausgewählt wurde, weil er am unmittelbarsten und authentischsten wirkte. Wo Alfred Hitchcock seinerzeit für seine Crime-Parade "Ein Cocktail für eine Leiche" (1948) noch zehn Schnitte brauchte, die er mit Überblendungen geschickt zu kaschieren wusste, haben Schipper und sein Kameramann, der Norweger Sturla Brandt Grovlen, das nicht mehr nötig, da ihnen modernste technische Mittel zur Verfügung stehen. Das Drehbuch bestand wohl nur aus zwölf Seiten. Auch das ist ein absolutes Novum bei einer solchen filmischen Tour de Force.
Dementsprechend improvisationsfreudig sind die Darsteller. Trotzdem - oder gerade deswegen - wirken die Dialoge nicht hölzern, sondern unglaublich echt und immer nah am Berliner Lokalkolorit. Das äußert sich nicht nur im Szene-Jargon der Jungs, sondern spiegelt auch ein Stück weit einen Zeitgeist wider. Der Schmelztiegel Berlin bringt unterschiedlichste Seelen zusammen, die versuchen, in der Stadt Fuß zu fassen, was angesichts des mangelhaften Arbeitsmarkts, ständig steigender Erwartungen und Zielsetzungen der jungen Menschen, die sich von einer solchen Metropole das gelobte Land versprechen, und dann versuchen, in ihrer Anonymität nicht unterzugehen, kein einfaches Unterfangen ist. Schipper entwirft das mikroskopische Schaubild von ganz gewöhnlichen Twentysomethings, die das Gefühl von Verlorenheit im Hier und Jetzt, Zukunftsehrgeiz, Ungewissheit, und doch gegenseitiges Vertrauen teilen. Die Kamera ist so nah bei den Charakteren, wie nur möglich, verurteilt sie weder, noch erhebt sie sie zu den üblichen Hollywood-haften Helden-Schablonen. Sie beobachtet nur, und das macht "Victoria" zutiefst menschlich, emotional und nicht zuletzt universell.
Die Schauspieler ordnen sich diesem Inszenierstil adäquat unter. Frederick Lau, der schon in einigen gefeierten deutschen Produktionen zu sehen war und dem Autor dieser Kritik vor allem aus der Verfilmung von Morton Rhues "Die Welle" in Erinnerung geblieben ist, pendelt zwischen großspurigem Cliquen-Showman, liebenswertem Trottel und verantwortungslosem Kriminellen, ohne dabei jemals aus dem Gleichgewicht zu geraten. Der Rest der Bande kann ebenso überzeugen, auch wenn Max Mauff als Fuß promille-bedingt wenig zum weiteren Verlauf der Handlung beizutragen hat. Die Entdeckung ist allerdings Laia Costa. In Barcelona geboren und bisher nur in kleineren spanischen TV-Serien in Erscheinung getreten, spielt sie die Madrilenin Victoria mit der Inbrunst einer langjährigen Kino-Schauspielerin. Da ihr die Kamera ja eigentlich so gut wie nie von der Pelle rückt, schultert sie eben auch eine enorme Verantwortung, die sie mit Bravour meistert. Ihre Victoria bringt sowohl die anfängliche Unentschlossenheit gegenüber dem spontanen Plan der Chaoten, als auch die Neugierde, und auch später das fast schon blinde Vertrauen in jede einzelne Kurzschluss-Handlung der Jungs und jede Wendung, die diese dann dem Geschehen gibt, punktgenau zum Ausdruck. Victoria lässt sich treiben, denn für solche Nächte, für solche unvorhergesehenen Trips, bei denen man nie weiß, wo einen die Stadt wieder ausspuckt, wenn man sich einmal bereitwillig in deren Schlund begeben hat, ist sie hier her gekommen.
Die hiesige Filmlandschaft hat mehr zu bieten als belanglose RomComs, Pennäler-Klamauk oder den siebenundneunzigsten Aufguss von Til Schweiger-Betroffenheits-Kino. Sebastian Schippers Film-Experiment mit Versatzstücken aus Thriller, Romanze und heist movie, das sich aufgrund seiner freigeistigen Form aber dann doch in keine Schublade stecken lassen will, ist ein kleiner Befreiuungsschlag für das deutsche Kino. Auch wenn "Victoria" von der Reduktion lebt, ist die Ereignisdichte in knapp zweieinhalb Stunden Echtzeit bemerkenswert. Die emotionale Tragweite sowieso. Für einen Film, der sich größtmögliche Authentizität auf die Fahnen geschrieben hat, wirken die Ereignisse im letzten Drittel vielleicht manchmal, als dienten sie lediglich dem Zweck der Zuspitzung einer Story, die vom Alltäglichen lebt. Aber auch nur dann, wenn man überhaupt dazu in der Lage ist, sich dem flirrenden Bilderrausch zu widersetzen. Wie dem auch sei.. letztlich ist doch genau das die Formel dieses Streifens: perfekt unperfekt.