Wie Worte Ordnung suggerieren können, aber in Wirklichkeit nur unbefriedigende Hilfsmittel sind, das Chaos der Welt zu erfassen, das ist, sehr grob gesagt, die Essenz von Peter Krügers „N - Der Wahn der Vernunft“. In seinem teils klassischen Dokumentarfilm, meist jedoch experimentellem Essayfilm beschäftigt sich der aus Belgien stammende Krüger auf mäandernde, assoziative Weise mit seinem Landsmann Raymond Borremans. Dieser emigrierte in jungen Jahren in den westafrikanischen Staat Elfenbeinküste, wo er bis zu seinem Tod im Jahre 1988 lebte und über der Arbeit an einer Enzyklopädie über das Land starb. Weiter als bis zum Buchstaben „N“ kam Borremans nicht, was für Krüger Anlass eines vielschichtigen, vielstimmigen Films ist, bei dem er sich manchmal in seinen Gedankengängen verliert, es oft aber auch interessante Denkansätze gibt.
Dokumentaraufnahmen oder Fotos von Raymond Borremans scheint es kaum zu geben, Tagebücher oder Erinnerungen hat der belgische Musiker und Globetrotter, der 1929, mit 23 Jahren nach Afrika kam, offenbar auch nicht hinterlassen. Viel Raum zur Spekulation also, viel Freiheit für einen Regisseur, sein Subjekt zum Leben zu erwecken und aus den wenigen Spuren eines Lebens, einen Film zu formen. Peter Krüger nutzt diese Freiheit und lässt Borremans als eine Art Geist auferstehen, den der Schauspieler Michael Lonsdale („München“) mit seiner charakteristischen, tiefen Stimme spricht und dabei einen Text des nigerianischen Schriftstellers Ben Okri deklamiert. Ein Afrikaner imaginiert also, was ein Weißer über Afrika denkt, und diese Komplexität deutet schon an, dass sich Krüger durchaus bewusst ist, dass er sich mit seinem Film thematisch auf dünnem Eis bewegt.
Denn wenn Borremans über seine ersten Jahre in Afrika sinniert, die Schönheit des Landes und der Menschen beschwört, die später, nach der Unabhängigkeit oft blutigen Bürgerkriegen Platz machte, dann klingt das oft wie der typische Klagegesang weißer Beobachter Afrikas. Ordnung, die durch Chaos ersetzt wurde, das ist der oft allzu reduzierte Blick auf Afrika, von dem auch Peter Krüger nicht ganz frei ist. Eine alte Welt wird da oft beschworen, voller Magie und Schönheit, die von politischen und sozialen Verwerfungen zerstört wurde. Der Bogen, den Krüger dabei schlägt, reicht bis in die Gegenwart der Elfenbeinküste, wo in blutigen Konflikten bestimmte Bevölkerungsgruppen, die jahrelang friedliche Mitbürger waren, in den vergangenen Jahren gejagt wurden. Und genau dort kommt die Sprache ins Spiel, der Versuch mit Worten Dinge zu definieren und zu kategorisieren.
Bis zu seinem Tod arbeitete Borremans an einer Enzyklopädie seiner Wahlheimat Elfenbeinküste, stellte zahllose Beiträge über Menschen und Pflanzen, Tiere und Musikinstrumente zusammen und schuf ein Standardwerk, das auch heute noch auf den Straßen von Abidjan, der größten Stadt des Landes, verkauft wird. Doch die Worte, mit denen Borremans beschreiben und sicher auch verstehen und definieren wollte, können auch dafür sorgen, dass auf einmal Volksgruppen getrennt werden, die einst friedlich zusammenlebten - erst nur durch Worte, dann vielleicht durch politische Entscheidungen, die die eine Gruppe begünstigen und Mitglieder der anderen benachteiligen. Das deutlichste Beispiel hierfür ist sicher die Trennung in Hutus und Tutsis, eine Trennung, die in Ruanda zu grausamen Massakern führte. Ganz so extrem waren die Auseinandersetzungen, die vor wenigen Jahren die Elfenbeinküste erschütterten zwar nicht, aber auch hier wurde eine Gruppe, in diesem Fall Wanderarbeiter aus dem Nachbarstaat Burkina Faso, plötzlich ausgegrenzt und zu Feinden gemacht. Mit solchen Assoziation schlägt Peter Krüger einen weiten Bogen von den Erfahrungen eines weißen Emigranten zur afrikanischen Gegenwart, von Worten zu Waffen, von der Vergangenheit in die Zukunft. Manchmal ist das etwas mühsam und bemüht, oft aber auch stimulierend und originell.
Fazit: In seinem experimentellen, essayistischen Dokumentarfilm „N -Der Wahn der Vernunft“ nimmt Peter Krüger das Leben seines Landsmanns Raymond Borremans als Ausgangspunkt für weitreichende, assoziative Gedankenspiele, die mal bemüht, aber meist stimulierend sind.