Christian Alvarts „Tatort: Fegefeuer“ wurde im Vorfeld der Erstausstrahlung am 3. Januar 2016 unter Verschluss gehalten. Anders als sonst hatten in diesem Fall auch Kritiker keine Gelegenheit, den Krimi vorab zu sichten. Eine solche Maßnahme hat es beim „Tatort“ seit vielen Jahren nicht gegeben und die Begründung des NDR fiel seltsam aus: Man befürchtete, die Pressevertreter könnten Details der Handlung verraten. Das klang nicht sehr überzeugend, schließlich war dem Sender das bei anderen „Tatort“-Folgen mit überraschenden (Schluss-)Wendungen (genannt sei nur der „Tatort: Borowski und der stille Gast“) bisher herzlich egal - und so drängte sich eher der Verdacht auf, dass Hauptdarsteller Til Schweiger, der seine Kinofilme schon seit „Keinohrhasen“ nicht in Pressevorführungen zeigt, bei der Entscheidung ein Wörtchen mitzureden hatte. Doch die Geheimniskrämerei hatte andere Gründe: Zum ersten Mal in der „Tatort“-Geschichte vermischt der NDR sein fiktives Krimiformat über die komplette Spielzeit mit der „Tagesschau“, wobei die echte und natürlich live gesendete 20-Uhr-Ausgabe der Nachrichtensendung ursprünglich sogar fließend in den „Tatort“ übergehen sollte. Zwar beginnt „Fegefeuer“ nun doch wie gewohnt mit dem Fadenkreuz-Vorspann, aber dann ist der Zuschauer mittendrin im Geschehen: Alvarts direkte Fortsetzung ist eine deutliche Steigerung gegenüber dem durchwachsenen „Tatort: Der große Schmerz“ und setzt neue Maßstäbe in Sachen Action, Brutalität und Tempo in der altehrwürdigen Krimireihe.
Tschetschenische Gangster dringen in das „Tagesschau“-Studio in Hamburg ein und nehmen Nachrichtensprecherin Judith Rakers und ein Dutzend weiterer Menschen als Geiseln. Ein Sprecher der vermummten Verbrecher wendet sich an die Bewohner der Hansestadt und fordert die Freilassung von Firat Astan (Erdal Yildiz). Der inhaftierte kurdische Clanchef sollte in ein Gefängnis in Bayern überführt werden und hatte die Familie von LKA-Kommissar Nick Tschiller (Til Schweiger) entführen lassen, damit dieser ihm dabei hilft, den Transport zur Flucht zu nutzen. Die Situation ist blutig eskaliert und nun weiß niemand, wo genau sich Tschiller und Astan aufhalten, auch Yalcin Gümer (Fahri Yardim), der Partner des Kommissars, hat den Kontakt zu seinem Kollegen verloren. Während Tschiller sich weiterhin über alle Vorschriften hinwegsetzt und die Situation im Alleingang bewältigen will, gerät Innensenator Constantin Revenbrook (Arnd Klawitter), der eine zwielichtige Rolle bei der ganzen Affäre spielt, immer mehr unter Druck ...
Die actiongeladene 970. „Tatort“-Folge beginnt wie ein dramatisches Live-Ereignis. In verwackelten Handkamerabildern werden die Hektik und das Chaos der Attacke im Nachrichtenstudio eingefangen. Hätte man den direkten Übergang der realen „Tagesschau“ zu der fiktiven Geiselnahme tatsächlich wie geplant umgesetzt, dann wäre es wohl tatsächlich zu Anrufen verwirrter Zuschauer gekommen, die das Krimigeschehen für echt halten. Auf diese Zuspitzung hat der NDR nun verzichtet, was angesichts der inhaltlichen Parallelen des Krimis zu den Terror-Anschlägen von Paris genauso nachvollziehbar ist wie die Verschiebung der Doppelfolge, die ursprünglich nur wenige Tage nach den Attacken in der französischen Hauptstadt gesendet werden sollte: Viele hätten die Ausstrahlung im November als geschmacklos empfunden, zudem hat der Krimi seine Stärken nicht auf der Ebene der inhaltlichen Auseinandersetzung mit schwierigen politischen Themen, sondern überzeugt als Genre-Unterhaltung. Regelmäßig eingeblendete Uhrzeiten unterstreichen den Echtzeitcharakter des Actionthrillers, der dem Publikum kaum Zeit zum Luftholen lässt: In Hamburg wird einmal mehr geklotzt und nicht gekleckert.
Selbst eine Panzerfaust bleibt den „Tatort“-Traditionalisten nicht erspart: Regisseur Christian Alvart („Tatort: Kopfgeld“) zieht die Actionschraube noch einmal deutlich an und liefert starke, diesmal weitgehend auch atmosphärisch überzeugende Bilder - auch wenn die Dramatik des Geschehens immer wieder durch Zeitlupeneinsatz künstlich aufgebauscht wird. Wie schon in den vorherigen Folgen gerät Til Schweigers Nick Tschiller mit Clan-Chef Firat Astan aneinander - doch während die Grenzen zwischen Gut und Böse bisher überdeutlich gezogen wurden, verwischen sie diesmal: Astan und Tschiller müssen sich solidarisieren. Das bringt einige platte Sprüche, aber auch giftige Dialoge mit sich („Ich verkauf Glückskekse an deinem Grab“). Auch Partner Yalcin Gümer Fahri Yardim) wirkt mit seinen trockenen One-Linern („Nimm den Schaumstoff weg!“) deutlich weniger überzeichnet als noch in „Der große Schmerz“. Ohnehin sind der Humor und ebenso der Familienkitsch mit Tschiller-Tochter Lenny (Luna Schweiger) diesmal deutlich geringer dosiert, stattdessen jagt in „Fegefeuer“ eine packende Actionsequenz die andere. Die Logik wird vernachlässigt, die körperliche Gewalt hingegen zelebriert - zum Beispiel dann, wenn Astan einen russischen Killer stranguliert oder sich Tschiller eine spitze Klinge aus dem Nacken zieht.
Stammautor Christoph Darnstädt versucht, den explosiven Hamburger Meilenstein „Tatort: Der Weg ins Paradies“ zu übertreffen und orientiert sich dabei unverhohlen an Hollywood-Vorbildern: Die Adrenalinspritze, die dem LKA-Kommissar auf der Zielgeraden neues Leben einhaucht, kennen wir aus dem Actionthriller „Crank“, zwei gegen einen gemeinsamen Feind kämpfende Vertreter von Gut und Böse gehören zum Standardrepertoire des amerikanischen Genrekinos (zu sehen etwa im Actionfeuerwerk „The Rock“) und das finale Duell im Zug von Hamburg nach Bremen erinnert stark an berühmte Fights in den James-Bond-Filmen „Liebesgrüße aus Moskau“ und „Der Spion, der mich liebte“. Etwas mehr Eigenständigkeit und inhaltlicher Tiefgang hätte Alvarts Film zwar durchaus gut zu Gesicht gestanden, aber sein Unterhaltungswert ist dennoch beachtlich: Einen so adrenalinschwangeren „Tatort“ hat es in der langen Geschichte der Reihe noch nicht gegeben. So weckt der „Tatort: Fegefeuer“ die Neugier auf das im Februar 2016 in den Kinos anlaufende „Tatort“-Spinoff „Tschiller: Off Duty“.
Fazit: Christian Alvarts „Tatort: Fegefeuer“ ist ein unterhaltsames Actionfeuerwerk und der bisher beste „Tatort“ mit Til Schweiger.